In 80 Briefen durch Paris

In 80 Briefen durch Paris

Dienstag, 9. August 2011


In 80 Briefen durch Paris


Das Wort zum Buch


Paris, die Stadt über die schon so viel geschrieben wurde. Bücher für Menschen, die Paris kennen lernen möchten, von Menschen die Paris kennen. Für Menschen, die Paris zu lieben vermuten, von Menschen, die dies bereits tun. Für Menschen, die Träumen wollen, von Menschen, die den Traum schon gelebt haben. Für Menschen, die mitreden möchten, von Menschen die gesprochen haben. Für Menschen, die verreisen möchten, von Menschen, die andere auf eine Reise mitnehmen.

Ich habe ein knappes Jahr in Paris verbracht, von Februar bis Dezember. Das erste halbe Jahr habe ich gearbeitet, aber dann war ich frei und hatte noch mehr Zeit Paris zu leben. Ich konnte mit der Stadt aufstehen, ihren ersten Sonnenstrahl erleben, mit den Frühaufstehern in die Metro steigen, und auch mit den letzten Nachtschwärmern im Nachtbus heim schaukeln.
Ich hatte die Freiheit an jedem Tag der Woche den entsprechenden Markt zu besuchen, die Winkel der Stadt in den unterschiedlichen Stimmungen des Tages und seines Lichtes zu sehen. Ich konnte die Sonne nutzen und mich von ihr in Parks und Gärten führen lassen. Ebenso konnte ich mich vor dem Regen verstecken und die Stadt nach den besten Schlecht-Wetter-Plätzen absuchen. Ich setzte mich nach Lust und Laune in einen Bus und ließ die Pariser Welt an mir vorüberziehen und stieg aus wenn das Draußen mich dazu aufforderte. Ich bastelte mir meine Lieblingsspazierwege, Lieblingsbuslinien, fand sogar zwei nette Metrolinien, eroberte unbekannte Plätze, erfreute mich an neuen Entdeckungen, wie z.B. den köstlichen petits pains farci in einer Bäckerei am Place d’Italie oder dem „Marché aux enfants rouges“, der sich zwar mitten im dritten, von Stadt-Eroberern wimmelnden Arrondissemt befindet, sich aber zwischen Hinterhöfen versteckt und deshalb vielen verborgen bleibt.
Bei all dem räumlichen Entdecken ließ ich aber auch die Menschen nicht außer Acht. Sie sind der lebendige Teil der Stadt. Ihre melodischen Worte gepaart mit den französischen Gesten und Verhaltensweisen machen erst die Inspiration aus, die diese Stadt durchweht.
So, ist dieses Buch eine Einladung, an diesen Spazier- und Gedankengängen teilzunehmen, vertraute Erinnerungen wiederzufinden oder sich zu einer eigenen Reise nach Paris anregen zu lassen. Sei sie nun real, oder auch nur im Kopf. Seien Sie nun Theo oder tragen einen anderen Namen.



1. Die erste Versuchung lauert am Bahnhof

Lieber Theo,

Ein Wunder: Man sitzt nur vier Stunden im Zug, steigt aus und ist in einer anderen Welt. Vier Stunden also habe ich nur, um mich auf die französische Dame vorzubereiten. Ich versuche es mit französischer Musik, die in meinen Ohren spielt. Das mag kitschig sein, aber äußerst wirksam in meinem Bestreben, das Frankreichgefühl herbeizuzaubern. Mir ist gerade nach der Musik von „Amélie Poulain“. Das ist Paris pur. Das ist Montmartre, die Metro im schönsten Licht und die Pariser in freundlich. Mit Amélie steige ich aus dem Zug. Und plötzlich ist alles französisch. Selbst der Lärm klingt französisch. Wahrscheinlich weil sich immer wieder eine Lautsprecherstimme einmischt. Sie sagt zum Beispiel : „Le TGV en direction de Marseille, départ seize heure quarante sept, voie douze, arrivera dans quelques instants“. Es ist nur eine ganz normale Durchsage wie sie auf Bahnhöfen nun mal zu hören sind, aber es sind diese französischen Worte, die sofort mein Herz erreichen und es hüpfen lassen. Ich weiß nicht ob du das nachvollziehen kannst. Dir geht es vielleicht mit Englisch ähnlich, wo du doch das halbe Jahr in Australien gewesen bist. Wenn du nun englische Worte hörst, bist du sofort drin in dieser Welt und du fühlst die große Freiheit. So geht es mir jedenfalls. Und das ist erst der Anfang. Nun geht es weiter mit den Gerüchen. Irgendwo habe ich mal gelesen, daß die Geschmackssinne, viel mehr noch als das eigentliche Sehen, in der Lage sind Erinnerungen lebendig werden zu lassen. Friedrich Schiller brauchte angeblich den Geruch verfaulender Äpfel, um sich an den Schreibtisch setzen zu können. Denn dieser Geruch erinnerte ihn an seine Kindheit, wo er nach begangenen Dummheiten in den Keller gesperrt wurde, dorthin wo die Äpfel verfaulten. Da hatte er dann wohl seine erste schriftstellerische Inspiration.
Während ich durch den Bahnhof gehe, denke ich, dass das stimmen mag. Das was ich sehe hat auf mich längst nicht so einen Einfluss wie das was ich rieche. Ich rieche den süßlichen Geruch von aufgebackenen Croissants. Es riecht immer ein bißchen so, als wären sie heiß mit Aprikosenmarmelade bestrichen worden. So riecht es nur in Frankreich. Und ganz besonders in Bahnhöfen, wo die Bäcker nicht selber backen, sondern die angelieferten, vorgebackenen Teigwaren nur noch in den Backofen schieben. In französischen Bahnhöfen riecht es nach aufgewärmten Blätterteig. Das ist so sicher wie es in Oma´s Kleiderschrank nach Mottenpulver riecht. Dieser Geruch macht mich glücklich. Ist klar, weil du dich sofort auf ein heißes Pain au chocolat gestürzt hast, wirst du behaupten. Das stimmt vielleicht, aber eigentlich reicht schon der Geruch und die Verbindung die dieser Geruch mit meinem Gehirn eingeht. Die kommt nämlich noch vor der Verbindung, die der Geschmack mit meiner Zunge eingeht.
So, nun lasse ich Dir eine Lese-Pause, die Du dazu nutzen kannst die Bäckereien deiner Nähe abzusuchen und das Geeignete zu finden um Deinen sicherlich aufgekommenen Heißhunger nach duftendem Blätterteiggebäck zu befriedigen.
Ein kleiner Tip noch: Wenn Du mal in Paris in einem der vier Bahnhöfe stehst und diesem Heißhunger nachgehen willst, dann geh ein paar Schritte weiter, aus dem Bahnhofsgebäude heraus. Die nächste Bäckerei ist nie weit, aber preiswerter und ehrlicher. Dort bekommst du ein frisches Pain au Chocolat, nicht aufgewärmt. Allerdings solltest Du auch noch wissen, daß du das Bäckerei-Frollein stets bitten kannst, dein Schoko-Croissant kurz zu erwärmen-„rechauffer“. Dann knuspert der fedrige Teig umso mehr und die Schoki ist leicht geschmolzen und legt sich wie ein samtener Vorhang auf deine Zunge und ...





2. Flirten im Park, der Hunger danach und ein Lehrgang in Sachen französischer Kaffee-Bestellung
Lieber Theo,

Was für ein schöner Tag! Ich mache mich schon auf den Weg nach Chatelet um von dort in den Bus der Linie 58 zu steigen. Das ist eine ganz tolle Buslinie, denn sie fährt von Chatelet aus über die Ile de la Cité, hinüber zum Place St. Michel (an dem dreieckigen Platz vor dem Brunnen kann man einen Blick auf die vielen wartenden Menschen werfen, es heißt dies sei Paris meist benutzter Treffpunkt), weiter geht die Fahrt mit der 58, den Boulevard Saint Michel entlang. Hier fängt das Quartier Latin an, also viele interessante Menschen und schöne Läden zum Schauen, keine großen Kaufhäuser, sondern eher Buchhandlungen, Schreibwarenläden, kleine Boutiquen und Antiquariate. Vor dem Haupteingang des Jardin de Luxembourg halte ich es nicht mehr aus. Das Gucken reicht nicht mehr, ich will drin sein in den Strassen, die Stimmen der Passanten aufnehmen, mich von ihrer französischen Melodie treiben lassen. Ich will die Gerüche wahrnehmen. Der Herbst duftet aus dem Park und setzt sich durch gegen den Pommes-im-Pappkarton-Geruch, der aus dem Mc Donalds strömt. Und immer wieder der Kaffeegeruch, der entströmt wenn der immer wieder gleich aussehende Garςon in seiner schwarz-weissen Hose-Hemd-Weste-Kombi die Tür aufstößt um die draußen sitzenden Gäste zu bedienen. Ich stehe vor dem Jardin de Luxembourg und sehe, dass an dem großen Eisenzaun Bilder aufgehangen worden sind. Es ist eine Ausstellung über China. Vor einiger Zeit hingen dort noch Bilder aus der Zeit als Paris von den Deutschen besetzt wurde. Dieser Ort wird regelmäßig für Photoausstellungen genutzt. Sehr schön. Ich finde es ist eine gute Einstimmung, um die Unruhe der Stadthektik abzuschütteln, und sich der Schönheit des Parks widmen zu können.
Der Jardin de Luxembourg ist meiner Meinung nach der französischste, oder besser gesagt: der „pariserischste“ Park der Stadt. Das mag zum einen an dem Drumherum liegen, das dem Paris-Klischee der romantischen Künstlerstadt komplett entspricht, zum anderen ist es aber auch der Park selbst. Er ist nicht so adrett und übersichtlich wie die kaiserlichen Tuilerien. Es gibt hier ganz viele Bäume. Tolle, alte Platanen, die sich hoch über meinem Kopf berühren und vor meinen Füssen schöne Schattenspiele machen. Wie auch in den Tuilerien, stehen hier kreuz und quer die grünen Eisenstühle herum. Zur freien Verfügung sucht sich jeder sein Lieblingsplätzchen. Es gibt hier so viele davon. Ich mag es gerne im hinteren Teil, hinter den Spielplätzen, dort sind die Wege schmaler und es laufen nicht ganz so viele Menschen umher. Aber wenn du was sehen willst, solltest du dich direkt an die Mauer vor dem Brunnen und dem Gebäude setzen. Das Gebäude ist der Palais du Luxembourg, der Sitz des Senats der zweiten Kammer des französischen Parlaments. Wenn der Senat gerade nicht tagt, kann man das Gebäude besuchen.
Ein Stück weiter von dort aus in Richtung Süden, auf den Wiesen, darf man sich hinlegen. Dort liegen die Studenten der Sorbonne- ein Klischee wird wahr.
Ich sitze also eine Weile an meinem Lieblingsplatz bis ich mich durch eine Kastanie vertreiben lasse, die mir mit überraschender Wucht auf den Schädel knallt. Lieblingsplatz, alter Verräter! Ich flaniere lieber weiter und entdecke den Bouleplatz. Hier stehen jede Menge grüner Stühle rund um das Boulefeld und ich nehme Platz. Wunderbar- noch ein Klischee erfüllt sich. Ich schaue den Spielern, überwiegend Rentner, überwiegend Männer (warum eigentlich?!) zu und genieße das Geräusch der aneinanderklickenden Kugeln. Dazwischen ein paar französische Flüche geben mir das Gefühl weit weg von zuhause zu sein. Obwohl Herbst ist rückt Sommerurlaub in der Provence in meine Erinnerung.
Ich hole meinen Photoapparat heraus und knipse möglichst unauffällig ein paar Menschen in ihren interessanten Posen. Das geht nicht lange gut, da kommt ein Mann zu mir und fragt mich, ob ich Detektiv spiele. Noch ist er nicht sicher ob er es unverschämt oder interessant findet. Es liegt also an meiner Reaktion. Ich bin sehr nett zu ihm, leicht naiv, kokett. Die Sache ist nun auch klar für ihn und er stellt seine Stimme auf Flirt-Ton. Wir plaudern eine Weile über das Übliche (woher ich komme und warum ich so gut französisch könne? Daran schließt sich nahtlos das Bekennen über die eigene Unfähigkeit zur Fremdsprache und die möglichen Gründe warum das den Franzosen so schwer fällt). Irgendwann ist alles gesagt, was oberflächlichen Blabla angeht, und er will wohl weiter im Kapitel „Fremde Frau kennenlernen“. Also schlägt er vor: „On va prendre un verre. Je t´invite »
Das ist übrigens witzig, sobald ein Franzosen-Mann dich einlädt zu einem Besuch im Café oder Restaurant schiebt er ganz oft ein „Ich lade dich ein“ hinterher. Ich weiß nicht, ob das nur mir so geht. Sehe ich vielleicht so aus, als könnte ich mir höchstens ein Glas Sirup mit Wasser leisten (das billigste Getränk in Frankreichs Gastronomie)?
Ich schätze, das ist Teil der üblichen Koketterie. Mann und Frau haben halt in Frankreich noch ihre Rollen. Die Frau ist schön, der Mann ist schön reich (na ja, zumindest so reich, dass es zur Einladung ins nächste Bistro reicht).
Ich gehe nicht mit ihm auf ein Glas. Sobald er das erfährt, hat er auch keine Lust mehr auf unsere Plauderei und „Bonne Journée“ und „Schönen Aufenthalt!“ ist er davon.
Ich höre noch ein wenig dem Klicken der Boulekugeln zu, dann beginnt mein Magen mir Melodien vorzuspielen. Ich verlasse den Park am Vordereingang, und mir gegenüber lockt der Mc Donalds die hungrigen Studenten mit dem dünnen Portemonnaie. Mich lockt er nicht, höchstens für das leckere Softeis. Das gibt’s hier in Frankreichs Mc Donalds nämlich in anderen Sorten. Aber mir ist nach herzhaft. Ich weiß, dass links vom Eingang, wenn man an dem großen Café an der Ecke des Place Ed. Rostand vorbei ist, die schmale Rue Monsieur le Prince abgeht. Was so edel klingt, ist gastronomisch gar nicht so edel.
Hier gibt es jede Menge kleine, preiswerte Restaurants. Nichts für den Gaumen, der sich französische Aromen auf der Zunge schmecken lassen möchte. Man findet hier vorwiegend asiatische Restaurants. Japanische Restaurants gibt es in Paris sehr viele. Ich finde das toll, denn es ist für mich die angenehmste Art Essen zu gehen. Es gibt überall Menüs zur Auswahl, die man auf einer Karte photographiert sieht (egal ob Tourist oder Franzose, die Namen der einzelnen Sushi verstünden wir nicht, wir müssen schon sehen was wir da wohl auf den Teller kriegen werden). Es gibt immer erst eine klare Suppe mit leckerer Einlage, dann einen Weißkrautsalat, mit Sojasoße schmeckt er asiatisch, dann die gewählte Kombi aus den unterschiedlichen Sushi bzw. Maki (da ist nur wenig Fisch drin, oft auch Avocado anstatt Fisch, ummantelt von Reis und einem Algenblatt), und ein paar Fleischspießen, die lecker würzig sind. Dazu gibt es eine Schale Reis, lecker klebrigen Duftreis, der mit der süßlichen Sojasoße ganz toll schmeckt. Das Menü kostet mittags um die 10 Euro und abends um die 15 Euro. Also für ein Essen in Paris nicht viel. Und man hat nicht das Gefühl von zu viel, zu fett, zu schwer im Bauch.
Das war lecker. Aber jetzt will ich doch wieder mehr Paris fühlen und überlege mir den café (fast obligatorisch nach einem französischen Mittagessen) in einer französischen Bar zu nehmen. Ich gehe noch mal zurück zum Place Ed. Rostand, biege aber nach rechts ab in die Rue de Medicis, und am Place P. Claudel nehme ich die Rue Corneille. Ich laufe am Theater Odéon vorbei, und finde immer noch alles sehr „pariserisch“. Dann habe ich meine Bar gefunden. Ich bin jetzt mitten in St.Germain des Près. Die Bar meiner Wahl heißt „Au Comptoir“. Sie ist wieder ein Klischee-Ort: eine große, massive Theke, braune, abgewetzte Tische und Stühle. Das Bier kommt aus dem Messingzapfhahn („1664“- „une Seize“, kannst du bei der Bestellung einfach sagen, dann hält dich keiner mehr für einen Touristen, und schlägt dir auch beim Preis nix drauf, was ja mancherorts passieren soll. Wenn es irgendein Bier einer anderen Marke sein soll, dann bestell „un demi“). Die Bar hat eine Fensterfront und ermöglicht so den perfekten Ausblick auf die Strasse. Gegenüber ist das „Café des Ecrivains“. Auch wunderschön. Gemütlicher mit seinen teilweise roten Sesseln und der gefüllten Bücherwand. Aber hier ist es teuer: Bier 6 Euro, wobei du in meinem Café mit 3,80 dabei bist. Aber ich trinke meinen petit café.
An der Stelle bietet sich ein kleiner Exkurs in die verschiedenen Möglichkeiten in Paris einen Café zu bestellen: Also erst mal, das was bei uns mal Filterkaffee war und teilweise immer noch ist bekommst du in Frankreich zwar in den privaten Haushalten, aber nie in der Gastronomie. Hier ist café das, was wir als Espresso kennen. Den bestelle ich mit „un petit café“ oder „un express“. Will ich ihn so ähnlich trinken wie daheim, also schwächer, dann bestelle ich „un café allongée“. Das ist dann ein Espresso mit der doppelten Menge Wasser. Will ich genau das Gegenteil, also richtig was Kräftiges, dann bestelle ich „un café serré“. Hier kommt weniger Kaffee in die Tasse aber die gleiche Menge Pulver. Nun zu den Kaffee-mit-Milch-Trinkern: „café au lait“ sagt in Frankreich kaum einer. Das Halb-Milch-halb-Kaffee-Getränk heißt schlechthin „café créme“ (was eigentlich verwirrend ist, denn crème ist Sahne, die ist aber doch gar nicht drin in dem Getränk).
Wenn du Kaffee nur mit Milch trinkst, aber du nicht so eine große Menge trinken willst oder dir der Preis für den café crème mit durschnittlich 3,90 Euro zu teuer ist, dann kannst du einen „noisette“ bestellen. Das ist ein französischer Kaffee (also wie wir ihn als Espresso kennen) mit Milch. Du kannst das alles auch entkoffeiniert haben. Dann nennst du den café, den du möchtest, und fügst ein „décaféiné“ an, oder wenn es ein ganz normaler petit café in entkoffeiniert sein soll, sagst du ganz salopp: „un déca“.
Das ist das große Einmaleins der französischen Kaffee-Bestellung, unerlässlich für den Pariser Alltag.







3. „Merci pour cette promenade“

Lieber Theo,

Mir ist aufgefallen, dass ich bei meinem letzten Brief den Tagesausklang vergessen habe zu erzählen, zu sehr haben mich die Gedanken an Kaffee fortgeschwemmt,
Eigentlich waren die Hauptaktivitäten dieses Tages auch bereits erzählt, aber auf der Heimfahrt ereignete sich noch eine kleine Szene, die ich gerne noch weitergeben möchte.

Ich nahm abermals den Bus, setzte mich in den hinteren Teil des Fahrzeugs und ließ mich spazieren fahren. Langsam ging es durch die engen Straßen von St.Germain des Prés, und ich schaute mir die Menschen an, die auf dem Bürgersteig auf einer Augenhöhe mit mir waren, mich aber dennoch nicht wahrnahmen, da ich durch die Busscheibe scheinbar unsichtbar für Passanten werde. Ein älterer Herr mit Spazierstock und Hut, erhob sich von seinem Sitz und bewegte sich zum Ausstieg. Er drückte den Haltewunsch-Knopf, der Bus hielt, die Tür ging auf, er lupft seinen Hut in Richtung Busfahrer und ruft ihm zu: “Merci pour cette promenade.“ Und steigt aus. Und ich sitze da, schaue ihm nach und lächle. Da hat jemand die Fahrt genauso genossen wie ich. Ach so, entschuldige, so gut ist dein Französisch vielleicht nicht. Er sagte soviel wie „ Danke für die Spazierfahrt.“
La vie est belle! Nicht wahr !?

Eigentlich sollte ich es in diesem Brief bei dieser kleinen Episode belassen, damit sie schön nachklingen kann. Aber ich bin gerade in Fahrt gekommen, und habe Lust, dir noch was über das Busfahren in Paris im Allgemeinen zu erzählen.
Den Bus zu nehmen ist, wenn man Zeit hat, das allerbeste Fortbewegungsmittel. Vor allem für Menschen mit ausgeprägtem Voyeur-Instinkt, wie ich ihn habe. Allerdings ist nicht jede Buslinie eine bloße Spazierfahrt. Einige, vor allem die, die durch chaotische Viertel fahren, wie die Gegend rund um Barbès bis zur Mairie des 19. Arrondissements, sind sehr bunt und abenteuerlich. Der Bus der Linie 31 fährt dort. Er fährt vom Gare du Nord zu Charles-de-Gaulle-Etoile. Das heißt von der Gegend rund um den Bahnhof, die bereits sehr dreckig und, Pessimisten sagen, gefährlich ist, durch die noch dreckigere und gefährlichere und auch gar nicht vorzeig-pariserische Gegend des südlichen 19. Arrondissements. Sobald er die Mairie Jules Joffrin erreicht hat wird es entspannter, der Bus leerer, denn die afrikanischen Frauen mit Kindern und die marokkanischen Männergruppen steigen hier größtenteils aus. Ich habe bisher nie ein Problem gehabt, kein Raub, keine Drohung, keine Verfolgung, keine Vergewaltigung. Mehr als ein „Bonjour. Ca va?!“ ist bisher nicht zu erwarten gewesen. Also keine Angst, man kann sich ruhig in die Viertel mit schlechtem Ruf wagen. Man sollte dabei allerdings auf das Touristen-Outfit verzichten.
Weiter geht’s in diesem Bus der Linie 31 ins 17. Arrondissement. Dieses zeigt sich erst von seiner ärmlichen Seite. Das ändert sich schlagartig, sobald die Brücke über die Eisenbahnschienen überquert ist (Pont Cardinet). Plötzlich sieht man wieder die schönen Fassaden à la Haussmann (dem Architekten von Paris), im Erdgeschoß schicke Restaurants oder edle Boutiquen. Das Ganze ist aber hier noch sehr dezent, nicht so aggressiv wie rund um die „Champs“ (wie der Pariser die Champs Elysée nennt). Wenn man dann am Place Charles de Gaulle aussteigt, nach ungefähr einer Dreiviertelstunde Fahrt, befindet man sich am anderen Ende der Stadt und auch am anderen Ende der Bevölkerung. Hautfarbe vorwiegend weiß, eingekleidet in bürogerechte Kleidung sieht man die Pariser mit den „guten Jobs“ auf dem Weg ins nächste Restaurant oder in eine Brasserie, um ihr Mittagsmenü einzunehmen.
So sieht also die abwechslungsreiche Fahrt mit der Linie 31 aus. (Übrigens ein Ziehharmonikabus).
Zu allen Fahrten im Bus ist zu sagen: Am besten nicht zu den Stoßzeiten, das verdirbt den Spaß etwas.
Was mich immer wieder erfreut ist die Freundlichkeit der Busfahrer. Eigentlich sollte man denken, dass sie aufgrund des chaotischen Verkehrs und der vielen Staus extrem gereizt sind. Sind sie aber nicht. Sie grüßen meistens nett, und, was ich besonders beeindruckend finde, sie warten auch mal auf jemanden, der angelaufen kommt oder halten nach begonnener Fahrt noch mal an, um noch jemanden aufzulesen. Und das obwohl ein paar Minuten später sowieso der nächste Bus die Haltestelle erreichen wird.
Die Pariser wissen, wie man Bus und Bahn fährt. Selbst in den vollsten Wagen kommen immer alle raus, und neue Fahrgäste rein. Die Pariser sind nämlich nicht so ängstlich wie wir. Wir würden doch nie aus der Tür heraustreten, um Leute besser hinaus zu lassen. Wir könnten ja nachher nicht mehr rein kommen, und der Bus oder die Bahn würde ohne uns weiterfahren. Du brauchst also in Paris nie Angst zu haben deine Station nicht zu schaffen weil der Wagen so voll ist und du befürchtest dich nicht rechtzeitig durchgequetscht zu haben. Du sagst „Pardon“, schiebst ein wenig und die Leute machen Platz, weil sie aus der Bahn oder dem Bus hinaustreten. Ist ja auch klar, dass in einer Stadt in der sich täglich Millionen Menschen bewegen andere Verhaltensweisen entstehen. Davon kann man eine Menge lernen.
Genug gelernt für heute!




4. Immer wieder Samstags: Wohnungssuche in Paris

Lieber Theo

Ich bin jetzt umgezogen. Habe das kleine Studio nahe dem Place de la „Répu“ (blique- aber das spart sich der moderne Franzose) geräumt und bin gar nicht so weit weg, ins 20 Arrondissement in die Rue de Belleville gezogen. Das war wirklich ein Glückstreffer. Eine Wohnung zu suchen ist ja eine Katastrophe in Paris. Anspruchsvoll darf man nicht sein, das ist klar. Aber der kleinste Anspruch überhaupt eine Unterkunft zu bekommen ist ja bereits eine Erwartung, die oft enttäuscht wird. Dann muß man ausweichen auf Zimmer oder Studios außerhalb von Paris. Ich habe es versucht auf die Art wie es alle Franzosen machen, die keine Beziehungen oder keinen Geheimtip haben: Ich kaufte mir Donnerstags die Zeitung „De Particulier à Particulier“, suchte mir aus einer Vielzahl von Angeboten einige Wohnungen raus, machte Besichtigungstermine die am Samstag darauf stattfanden. Bereits früh um neun wollte ich die erste Wohnung Nahe La Bourse angucken. Ich war früher da und beim Einbiegen in die Strasse konnte ich mir schon denken in welchem Haus die Wohnung zu finden ist: Dort wo die vielen Menschen davor stehen. Es wird geöffnet und ungefähr zwanzig müde Menschen folgen den Anweisungen des Vermieters und steigen die sieben Stockwerke im schmalen Hinterhaustreppenhaus hinauf. Er selber nimmt einen Aufzug für den nur er den Schlüssel hat. Zu zwanzig betrachten wir die Behausung: ein Chambre de bonne, ein ehemaliges Dienstmädchenzimmer. So ein Chambre de bonne ist für Nicht-Pariser eine romantische Vorstellung. Wir sehen einen kleinen gemütlichen Raum vor uns, der unter dem Dach eines feinen französischen, ca. fünf Stockwerke hohen Hauses thront, mit einem Fenster (das sind dann sicher die Fenster, die sich in dem grauen Teil der Dächer befinden!?), das einen schönen Blick hinüber zu den Dächern mit den typischen Tonschornsteinen preisgibt. Stuben, die zwar ärmlich sind, aber so romantisch, dass man sich dort eine George Sand vorstellt, wie sie an einem kleinen Schreibtisch sitzt, mit Schal und Decke um sich geschlungen, um die Kälte des ungeheizten Raumes zu ertragen. Ein Raum, unwichtig, wie altmodisch er eingerichtet ist, mit Toilette auf dem Flur, aber so romantisch.
So dachte ich bevor ich die wahren Chambre de bonne kennen lernte. Über der Etage in Grau, dem Anfang des französischen Daches, befindet sich nämlich noch eine Etage. Die sieht man allerdings von der Strasse aus kaum. Ihre Fenster sind Dachluken. Nun stell dir den Raum vor, in dem das einzige Tageslicht von einer kleinen Dachluke kommt, von der aus du nur Himmel siehst. Das ist nicht romantisch, das ist beängstigend. Zumindest ich empfinde das so. Ich könnte in so einem Zimmer keine drei Stunden aushalten. Es mag natürlich solche und solche geben, aber Tatsache ist, daß ich meine Vorstellung von einem netten Chambre de bonne ordentlich revidieren mußte.
Jedenfalls quetschen sich an diesem Samstagmorgen zwanzig Personen in dem Minizimmer und begutachten auch die Toilette am Ende des Flures. Ich frage mich, ob diese zwanzig Menschen sich tatsächlich überlegen in diesem Loch wohnen zu wollen und dafür etwas mehr als 380 Euro Miete zu bezahlen. Wird sich irgend jemand von ihnen freuen wenn der Vermieter ihn anruft um ihm mitzuteilen, dass er das Rennen gemacht hat?? Kaum vorstellbar. Ich jedenfalls verzichte darauf meinen Namen und Telefonnummer auf seine Liste zu schreiben. Abgesehen davon rechne ich mir sowieso keine großen Chancen aus. Wenn man in Paris eine Wohnung sucht, braucht man ein ganzes „Dossier“, wie sie es nennen. Damit meinen sie Unterlagen, die sozusagen Werbung für deine Person machen. Also Arbeitsvertrag, Einkommensnachweis, wenn du Student bist dann mindestens eine Bürgschaft deiner Eltern und den Nachweis ihrer Einkommensverhältnisse.
Wie du weißt habe ich nichts von alledem. Ich hatte mir in meiner naiven Art gedacht, dass es so schlimm wohl nicht sein kann, und ich bestimmt schon bei der zweiten Wohnungsbesichtigung auf einen verständnisvollen Vermieter treffen würde, den ich auch sofort verzaubern könnte. Aber wenn du mit zwanzig oder mehr Menschen den Raum betrittst hast du schlechte Chancen auf Zauberei mit dem Vermieter, der meistens, verständlicherweise, auch nicht so viel Lust auf Plauderei hat, sondern froh ist wenn die lästige Aktion vorbei ist.
Obwohl ich nach der ersten Wohnung bereits das Gefühl hatte, dass ich auf diesem Wege nicht zu meiner Bleibe kommen werde, machte ich weiter, ging tapfer zur nächsten Metro um zur nächsten Wohnung zu fahren. Ein paar der zwanzig Wohnungssuchenden schienen dasselbe Ziel zu haben. In der Metro fing ich mit einem von ihnen zu plaudern an, wir teilten unser Leid über die Problematik der Pariser Wohnungssuche. Die nächste Wohnung war, vor allem nach der ersten Katastrophe ein kleines Paradies. Sie lag im neunten Arrondissement, in einer schmalen Strasse, im Hinterhaus. Hier herauf ging es nur fünf Stockwerke, aber anhand der vielen Menschen, die uns im Hof und im Treppenhaus entgegen kamen konnte ich mir meine Chancen schon ausmalen. Also schaute ich mir traurig die schöne Wohnung an, trug mich, kaum hoffnungsvoll, in die Liste ein und verließ diesen Ort.
Am liebsten hätte ich nun aufgehört, aber ich dachte mir einen Versuch machst du noch. Mein Begleiter hatte die nächste Wohnung auch auf seiner Liste, vermutlich wie die anderen zwanzig auch..) und wir machten uns wieder gemeinsam auf den Weg. Er ging mir allerdings langsam auf die Nerven, denn ich merkte, er drängte auf ein näheres Kennenlernen. Wir erreichten die Wohnung und davor standen bereits wieder viele Leute, als ein Mann aus der verschlossenen Tür trat und verkündete: „C’est fini“, die Wohnung ist vergeben.
Bloß weg aus dieser Traube Obdachsuchender Menschen, die alle mehr in ihrem Dossier hatten, als ich in meinem nicht vorhandenen. Langsam kroch in mir die Verzweiflung hoch.
Ich brauchte einen anderen Plan. Ich erinnerte mich an Tipps, die ich von deutschen Paris-Kennern zum Thema Wohnungssuche bekommen habe. Tipps, die nicht waren, die „Particulier“-Zeitung zu kaufen, sondern es mal in der Eglise américaine zu versuchen. Dort hingen eine Menge Zettel am schwarzen Brett, auf denen Zimmer angeboten wurden. Ich fahre hin und entdecke das schwarze Brett sofort neben dem Eingang. Die meisten Zettel sind in englischer Sprache und es werden dort Mitbewohner gesucht. Nicht schlecht, auch die Preise sind o.k. Selten mehr als 350 Euro. Ich schreibe mir ein paar Nummern auf. Meine Verzweiflung findet wieder Licht am Ende des Tunnels.
Ein anderer Tipp war, es im Goethe Institut zu versuchen („Institüh Göth“- nur so kennen es die Pariser, falls man danach fragen muß). Im Eingansbereich befinden sich neben der Rezeption einige Ordner auf denen stehen verheißungsvolle Dinge wie „Offres Location“
(Angebote zur Zimmersuche), „Offres Travail“ (Arbeitsangebote- darin hauptsächlich Au pair-Stellen) und „Offres“ ganz allgemein. Der Ordner mit den Wohnungsangeboten ist erfreulich voll. Praktischerweise steht auch auf jeder Anzeige das Datum seiner Veröffentlichung drauf, so dass ich mir ausrechnen kann ob es sich noch lohnt anzurufen. Wenn die Anzeige älter als eine Woche ist sieht’s schon schlecht aus.
Ich schreibe mir mehrere Namen und Nummern raus und zuhause telefoniere ich sie ab. Im Goethe Institut treiben sich natürlich viele Deutsche rum, dementsprechend sind auch einige Angebote von Deutschen. Das passt mir gut, denn bei so etwas Wichtigem wie einem Mietvertrag habe ich ein besseres Gefühl wenn ich ihn mit einem Landsmann in meiner Sprache unterzeichne. Deutsche Vermieter scheinen auch besonders gerne im Goethe Institut ihre Angebote zu veröffentlichen, da sie auch mehr Vertrauen in deutsche Studenten haben. Auch ohne Dossier.
Ich rufe Christian an. Er bietet ein WG-Zimmer in der Rue de Belleville an. Er ist Modedesigner aus Hamburg und wir plaudern gleich äußerst nett. Ich habe ein gutes Gefühl und als ich am übernächsten Tag die Wohnung anschaue, will ich nur noch eins: dieses Zimmer!



5. Drei Kontinente entlang der Rue de Belleville

Lieber Theo,

Ich habe auf den Stadtplan geguckt und da fiel mir auf, daß ich die Strecke bis zur Wohnung bei Christian, die ich mir heute angucken werde, auch zu Fuß laufen könnte. Ich gehe also vom Place de la République aus in Richtung Norden und nehme die Rue du Faubourg du Temple. Hier passiert eine Menge. Zuerst ist alles noch sehr französisch. Die sich ständig wiederholenden Bäckereien, Bars wie wir sie an jeder Straßenecke sehen, eine Papeterie, eine kleine preiswerte Modeboutique, dann gelange ich an eine Kreuzung. Schaue ich ein Stück nach rechts, sehe ich den Canal St. Martin (du weißt schon, da wo Amélie immer ihre Steinchen geschmissen hat). Er kommt in einer leichten Linkskurve auf meine Kreuzung zu und verschwindet genau dort unter der Erde (zu dem Kanal erzähle ich Dir ein andermal mehr). Ich überquere die Kreuzung und den Boulevard Jules Ferry , lasse den Mc Donalds links liegen und gehe weiter meine Rue du Faubourg du Temple entlang. Sie hat sich verändert. Plötzlich ist alles dreckiger, die Geschäfte sind billig und bieten schrille, ebenso billige Klamotten an. Die Art von Klamotten die von jungen Ausländerinnen getragen werden, die sexy sein wollen, aber kein Geld dafür übrig haben. Alles ist in dieser Mode-Periode rosa, hellblau, weiß und hat eine Menge Glitzer. Was nicht Billig-Mode-Laden ist, ist Billig-Shop, wo man nach dem Prinzip Alles-für-1-Euro einkaufen kann. Die Häuser, die dazwischen noch frei sind, (hier ist in jedem Haus ein Ladenlokal), sind Imbisse mit Halal (koscherem Fleisch) und Bars, in die ich mich nicht hineintraue. In diesem Teil der Rue de Faubourg du Temple scheinen eindeutig die Nordafrikaner zuhause zu sein. Sobald ich den Boulevard de Belleville erreicht habe und die Straße Rue de Belleville heißt, ändert sich das Bild schon wieder. Hier betrete ich den asiatischen Kontinent. Geschäfte, über denen große Schrifttafeln in chinesischer Schrift prangen, ebensolche Ein-Euro-Läden, in denen ich vom ABC-Pflaster, über Haarschmuck, Küchensieben, dem Transistorradio, bis zum Zeichenblock alles bekomme. Allerdings hier sind die Besitzer Chinesen, was zur Folge hat, daß chinesische Kling-Klong-Musik läuft und man zusätzlich zum Standartprogramm noch chinesische Küchenutensilien, Spielsachen und China-Pantöffelchen bekommt. Natürlich fehlen hier auch die chinesischen Supermärkte nicht, aus denen dieser furchtbar sauere Geruch strömt, wo man allerdings tolle Dinge kaufen kann, z.B. Jasmintee für ganz wenig Geld oder Cocos-Essig, hm lecker! Aber wenn Du ein echter China-Fan wärest, gingst du besser zu den „Frères Tang“, einer chinesischen Supermarktkette, die im südlichen 13. Arrondissement ganze Straßenzüge besitzt und man nicht mehr erkennt, dass man tatsächlich seine Füße noch auf französischem Boden hat. (Die nächste Metro-Haltestelle ist hier die Porte d’Ivry, dann einfach die Avenue d’Ivry ein kleines Stück stadteinwärts laufen und schon bist du inmitten von Chinesen, häßlichen Hochhäusern und den riesigen Supermärkten und echten Neonlicht-China-Kantinen).
Aber wir waren in der Rue de Belleville stehengeblieben. Ich bringe den asiatischen Teil der Strasse hinter mich, keuche (die Strasse geht bergauf) an einigen verheißungsvollen asiatischen Restaurants vorbei, von denen „Einheimische“ mir bereits vorgeschwärmt hatten. Ich halte kurz an, denn auf der rechten Straßenseite hängt ein Schild an einer Fassade und da steht doch tatsächlich: Hier wohnte Edith Piaf! Rue de Belleville, Nummer 72, wer hätte das gedacht!?
Ich erreiche die nächste Kreuzung. Hier kreuzt die Rue de Belleville die Rue des Pyrenées, eine mittelgroße, baumbestandene, und damit sehr sympathische Strasse. Ich überquere sie, und folge meiner Bestimmung, immer den leichten Belleville-Hügel hinauf. Nun wird es wieder beschaulicher. Ich fühle mich wieder heimischer, also europäischer. Französische Bäckereien und Metzgereien und viele Obstgeschäfte geben mir ein Gefühl von Heimat und ich freue mich, denn ich hatte ein wenig Angst, daß meine eventuell neue Wohnstätte inmitten des asiatischen Kontinents liegen würde. Du weißt, ich bin, außer daß ich gerne Jasmin-Tee trinke und meine Lieblingsschuhe die China-Samtschuhe sind, kein Asien-Fan. Aber bis auf einige chinesische Traiteurs bleibt es in dem oberen Teil der Rue de Belleville kaum noch asiatisch. Und gegen die Traiteurs hab ich auch gar nichts. In diesen Läden kann man sich ein chinesisches Gericht zusammenstellen. Es gibt da keine Überraschungen, alles ist sichtbar in der Theke und glänzt so appetitlich als sei es mit Fett-Spray eingesprüht worden. Für ca. 6 Euro bekommt man ein gutes Essen und ich bin ganz besonderer Fan von Riz cantonais ( kantonesischer Reis: Reis mit Erbsen, Ei und Schinken). Auch die Frühlingsrollen sind köstlich und für ca. 1,50 Euro echte Schnäppchen.
Die Straße schlängelt sich leicht den Berg hinauf und wird immer schöner. Ich erreiche den Place de Jourdain. Christian sagte mir am Telefon, es sähe dort aus wie auf dem Dorf. Unrecht hat er da nicht, denn durch die große Kirche und den Platz davor, die Cafés drum herum und die etwas aus dem Großstadtgewusel herausgehobene Lage, kommt es einem tatsächlich dörflicher vor. Eigentlich brauche ich nun die Wohnung gar nicht mehr zu sehen, ich weiß jetzt schon, daß ich hier wohnen will. Das gute Gefühl ist aber tatsächlich noch zu steigern. Als ich die grüne Holzpforte der genannten Hausnummer aufstoße, wenige Schritte von der Kirche entfernt, neben der Kaffee-Rösterei, wie Christian mir verhieß, mache ich große Augen: Ein wunderschöner Innenhof, ca. 50m lang, rechts und links zweistöckige Häuser in schöner, heller Farbe und Pflanzen!! Ich könnte mich auch in einer Gärtnerei befinden. Ich sehe, hier wohnen die nicht-frustrierten Franzosen. Die, die nicht schimpfen müssen auf die Stadt und den Staat, sondern die, die es sich in ihrem Heim schön machen wollen. Geselliges Nachbarschaftsleben scheint hier gelebt zu werden, denn am hinteren Ende des Hofes stehen, eingerahmt von wuchernden Kübelpflanzen, drei Bänke um einen Tisch und darüber baumelt eine bunte Lichterkette. Ich betrete die Wohnung, meine Begeisterung hält an. Ich würde es pariserischer Charme im unteren Einkommensverhältnis, gemixt mit deutschem Ordnungssinn, gepaart mit künstlerischer Verspieltheit nennen. Um es verständlicher zu machen: Die unteren Einkommensverhältnisse spiegeln sich in dem Bad wieder, durch das man muß, um in die Küche zu gelangen. Ebenso in den ungeraden Wänden und den zugigen Fenstern. Die deutsche Ordnung kennt jeder und die künstlerische Verspieltheit kommt zutage in selbst gedruckten Stoffen mit Insektenmotiven, Trödelmarkt-Kitsch, witzig in Szene gesetzt.
Mir gefällt’s und Christian gefällt mir auch und ich ihm scheinbar auch, denn zwei Tage später ist seine Zusage da.
Tja, nun lebe ich also im 20.Arrondissement, genau an der Grenze übrigens. Die Rue de Belleville rechte Straßenhälfte gehört zum 20ten, die Linke zum 19ten.
Was es hier so alles zu gucken und erleben gibt erzähle ich dir im nächsten Brief.
Danke, dass ich Paris so herrlich mit Dir teilen kann!







6. Ein Park- pas comme les autres

Lieber Theo,

Ich hatte dir versprochen etwas aus meinem neuen Quartier zu erzählen.
Erst mal muss ich sagen, dass ich besonders froh bin, in einer Ecke von Paris zu sein, die einem als harmloser Paris-Besucher eigentlich verborgen bleibt. Hier gibt es keine beeindruckenden Gebäude, keine großartigen Kirchen, keine Seine, keinen Kanal, keinen Vergnügungspark. Die einzige Attraktion für die Paris-Touristen in diesen Teil, den Nordosten von Paris kommen, sind die Buttes Chaumont. Übersetzt heißt das soviel wie: Die Hügel von Chaumont. Klingt schon komisch oder!? Hügel mitten in Paris!? Es ist komisch. Auf einer meiner ersten Entdeckungstouren in der neuen Heimat nahm ich mir die Buttes vor. Die Buttes sind eigentlich ein der, nämlich der Park. Ich ging also ein paar eher weniger schöne Straßen hindurch in Richtung Park und als ich seinen Zaun erreichte und die Grünlandschaft betrat bekam ich wirklich ins Staunen. Allein schon durch die unterschiedlichen Höhen entsprechen die Buttes Chaumont keinem herkömmlichen Stadt-Park. Es geht bergauf und bergab, über breite und schmale Wege, an gepflegten Blumenbeeten und an wildem Gestrüpp vorbei, über eine Brücke, durch einen Felsen hindurch, an einem Wasserfall vorbei. Du staunst was?! Das ist hier tatsächlich Natur pur. In der Mitte des Parks ist ein See und in dem befindet sich ein Fels, der ziemlich hoch ist. Man kann hochgehen und hat eine prima Sicht. Von dort kann man auch prima Brautpaare beobachten, die sich gerne zu Füßen des Felsens photographieren lassen.
Die Geschichte dieses außergewöhnlichen Parks ist ganz simpel: Es ist ein ehemaliger Steinbruch. Zur Weltausstellung 1867 ließ ihn
Napoléon III zum Park umfunktionieren. Außer diesem Park bescherte der Steinbruch ein Paris ein kleines „Dorf in der Stadt“. Weil der Boden westlich des Steinbruchs von Gängen durchzogen war, ist der Boden dort bis heute sehr fragil. Dieser Tatsache verdanken einige wunderschöne kleine Häuschen ihr Überleben. Von der Metrostation Bozaris, die Rue du Général Brunet entlang in Richtung Metro Danube gehend, findest du nämlich tatsächlich ein Dorf. Kleine Häuser mit Vorgärten, von Blumen umrankt, verbunden durch enge Gässchen. Hierhin gehe ich oft, wenn ich mal das Gefühl brauche in nächster Nähe meine Umgebung zu wechseln. Wäre der Boden auf dem die schnuckeligen Häuser stehen nicht so fragil, hätte die Stadt längst die ehemaligen Steinbruchs-Arbeiter-Häuser, abgerissen um mehrgeschossige Ungetüme hinzustellen.
Wenn Du mich mal besuchen kommst machen wir mal eine Parkwanderung und kehren nachher in das schöne Café am Place Danube ein. Es hat zwar den Besitzer gewechselt und ist jetzt leider längst nicht mehr so urig wie es mal war. Aber wenn die Sonne scheint, können wir herrlich an den drei Tischen draußen sitzen und die Ruhe dieser Gegend genießen.





7. Spionin mit guten Absichten, im Café La Gitane

Lieber Theo,

Letzte Woche bin ich zum ersten Mal in das Café „La Gitane“, am Place Jourdain gegangen (19tes Arrondissement). Ich habe entdeckt, dass man dort die Treppe hoch gehen kann und seine Ruhe hat vor den Kerlen, die unten so unangenehm laut über Fußball diskutieren, Lotto spielen oder ein Rubbel-Los bearbeiten, über die Regierung schimpfen und dabei Ricard trinken und Filterlose rauchen.
In dem Raum über der Kneipe dagegen ist es meistens recht leer. Ich suche mir gerne einen Platz am Fenster und schaue mir das Treiben unten auf dem Platz vor der Kirche an. Dabei mache ich so schöne Dinge wie z.B. dir einen Brief zu schreiben. Allerdings tat ich bei meinem letzten Besuch dort etwas anderes: Ich fotografierte. Es war wohl schon etwas frech, oben wie ein Detektiv meinen Zoom auszufahren und die ahnungslosen Menschen auf der Strasse zu knipsen. Es hat mich auch etwas Mut gekostet, aber dann dachte ich an Robert Doisneau (Du weißt schon, das ist der berühmte Pariser-Vorstadt-Photograph, der das Photo des küssenden Paares vor dem Hotel de Ville gemacht hat). Sein Freund, der Poet Jaques Prevert, sagte einmal über ihn: „Wenn Robert einen Menschen vor seiner Linse hat und dieser ihn dabei anschaut, dann befindet er sich auf vertrauten Terrain. Das sieht man in den Gesichtern seiner Motive.“ Also ich verstehe das so: Die Menschen, die Robert einfach so ungefragt zu knipsen beabsichtigte, erkannten in ihm den Guten. Sie verstanden bei einem Blick in sein mildes Gesicht, daß er ihnen nichts Schlechtes wollte, sondern sie fühlten sich respektiert und seinesgleichen. Doisneau fotografierte vor allem einfache Arbeiter und die eher ärmlichen Vorstadt-Pariser.
Ich machte mir also klar, dass es nichts Schlechtes ist, was ich hier mache wenn ich die Menschen auf dem Photo festhalte. Ich achte sie, sie können mir vertrauen.
Die zwei Jungs, die nach einer wohl durchgemachten Nacht auf dem Mäuerchen sitzen und hungrig, müde und schweigsam ihr Baguette essen. Für ein belegtes Sandwich reichte ihr Geld sicher nicht mehr.
Die Vierergruppe von Frauen, die ihre Handtaschen umgehangen, hier und da bereits eine Einkaufstüte in der Hand, beisammen stehen und sich unterhalten. Vielleicht kennen sie sich, weil ihre Kinder in dieselbe Schule gehen. Junge Mütter, offen und kontaktfreudig. Sie tragen bequeme Schuhe, und Kleidung, die von Monoprix kommen könnte.
Ein alter Mann, der mit arg gekrümmtem Rücken, den Blick verdammt auf den Boden in langsamem Schritt den Platz überquert. Er ist sicher auf dem Weg, einen kleinen Einkauf zu tätigen. Vielleicht das Baguette zu kaufen, um es am Mittag in seinen Teller Suppe zu bröseln.
Eine junge Frau lehnt am Laternenpfahl. Wartet sie auf jemanden oder will sie nur einfach da stehen und schauen? Ein attraktiver Mann geht gerade hinter ihr her, in der einen Hand ein Croissant, in der anderen eine Zeitung, in der er gehend liest. Liest und isst und schaut, einen kurzen Blick auf die an der Laterne lehnende Frau. Sie bemerkt es nicht.
Zwei alte Menschen, Mann und Frau. Kein Paar. Er steht, macht einen leichten Buckel. Alles an ihm hängt, ist gebeugt. Die eine Hand macht mühsam eine halbe Geste, die andere trägt ein Baguette. Auch das scheint sich an den Enden nach unten zu beugen. Aber sein Gesicht ist lebhaft. Seine Augenbrauen sind hoch gezogen, seine Augen strahlen Neugier und Lust an der Unterhaltung aus. Die Frau, mit der er sich unterhält sehe ich nur von hinten. Sie ist ebenfalls Rentnerin, trägt eine recht moderne Frisur. Alles abwärts ihres Kopfes entspricht ihrem grauen Haar. Schwarze Jacke, schwarzer knielanger Rock, schwarze Gesundheitssandalen in hellen Nylonstrümpfen. Zwei Menschen, die sich seit langem zu kennen scheinen, die im selben Micro-Quartier leben, sich regelmäßig auf der Strasse treffen, und bei diesem Anlass ein paar Neuigkeiten austauschen.
Das Beobachten und kurze Eintauchen in den Alltag dieser Menschen, nimmt einem das Anonymitätsgefühl der Großstadt. Nur das Hinschauen und Nachsinnen über meine Motive macht Fremde zu scheinbar Bekannten. Das tut gut.



8. Vom Père Lachaise zur Kneipenstraße Rue Sorbier
in den „besagten Ort“,
Kneipen und Cafés im größt anzunehmenden Klischee.

Lieber Theo,

noch ein „Bonbon“ aus meinem Viertel, dem 20. Arrondissement.
Mein lieber Freund Olivier zeigte mir diesen Ort, an dem ich heute zum ersten, aber ganz sicher nicht zum letzten Mal gewesen bin.
Wir spazierten vom Friedhof Père Lachaise aus in Richtung Norden Rue de Ménilmontant. Eigentlich wollten wir in dem Café Nahe dem Friedhof ein Gläschen nehmen, aber es war zu voll. Sonntags sollte man dort nicht hingehen. Da kommen alle von ihrer promenade vom Père Lachaise und kehren dort ein. In der Woche aber ist das auch ein Tipp. Es befindet sich gleich am östlichen Ausgang des Friedhofes,
Rue des Rondeaux. Gegenüber und auch daneben sind Blumengeschäfte, was den Ort natürlich sehr sympathisch macht. Das Café ist urig, nicht sehr schön von innen, aber um draußen zu sitzen ein herrlich ruhiger Platz mit erfreulichen Preisen!
Aber wie gesagt, für uns war es an diesem Sonntag spät nachmittags zu unruhig dort. Olivier wusste aber eine Alternative und so spazierten wir zum Place M. Nadaud und bogen dort in die Rue Sorbier ein. Wir gingen diese nette Straße entlang, ich stellte fest, dass ich hier auch gut wohnen könnte, das war als wir an dem großen begrünten Platz vorbeikamen. Kurz bevor die Rue Sorbier auf die Rue Ménilmontant stößt, gelangen wir an einige Kneipen. Die gefallen mir sehr gut, sind alle irgendwie „in“, aber nicht „branché“ ( branché sind Orte, an denen die Menschen sehr stylisch gekleidet sind, die Einrichtung sehr modern oder auch schrill ist und man das Gefühl hat, jeder konkurriert mit jedem). Die Kneipen hier sehen eher aus, als würden dort die jungen Menschen mit wenig Geld und wenig Motivation solches verdienen zu wollen, zu den Stammgästen gehören. Menschen, die im Viertel wohnen und gerne gesellig bei einem Glas Bier an der Theke sitzen, oder auch mal die Möglichkeit nutzen, die ihnen ihre verwahrloste Küche nicht gibt, einen leckeren Happen zu sich zu nehmen.
Wir gehen in die Bar „Lieu Dit“ ( heißt soviel wie „Besagter Ort“, mir fiel dazu allerdings auch noch ein Wortspiel ein: Dreht man die ersten Buchstaben um, wird „Dieu Lit“- „Gott liest“ daraus). In dieser Bar nämlich gibt es eine Besonderheit: hier steht ein Bücherregal und ein Schild davor:
„Viens avec un livre, pars avec un autre!“ Mit anderen Worten: Du kannst dort ein Buch aus deiner privaten Sammlung abstellen und darfst dafür eines aus dem Regal mit nach Hause nehmen. Es gehört dir. Oder du bringst auch das wieder zurück wenn es dir nicht so gut gefallen hat und holst dir dann wieder ein Neues.
Olivier und ich setzen uns an die Theke und bestellen zwei „Seize“
(Du weißt schon: 1664- das Bier). Die Kneipe ist sehr gemütlich, und das findet man selten in Paris. Die Kneipenlandschaft in Paris sieht ja so aus: Zum größten Teil findet man Brasserien. Das heißt soviel wie Brauerei. Du darfst dir aber dabei nicht unsere guten deutschen Brauhäuser vorstellen. Eine Brasserie braut auch nicht selber, sie schenkt Bier aus. Die meisten Brasserien sind sehr zweckmäßig eingerichtet. Das Herzstück bildet die Theke. Sehr groß ist sie meistens, damit die vielen Leute Platz haben, die sich gerne an sie lehnen und einen schnellen Kaffee trinken und einen Blick in die Zeitung werfen oder ein paar Worte wechseln mit den anderen Männern ( ja, das Thekenlehnen ist Männersache, nur selten sieht man dort eine Frau). Die Theke ist meistens das reinste Chaos, denn hier wird so richtig gearbeitet. In deutschen Kneipen gehen vielleicht in zehn Minuten 20 Getränke raus, hier sind es mindestens doppelt so viele) Die Kellner schuften. Sie sind aber auch unglaublich schnell und wendig, jeder Handgriff kommt sicher und selbstbewusst. So sind auch die Pariser Kellner: extrem selbstsicher (zumindest tun sie nach außen so) und das sieht oft arrogant aus, wodurch der Garcon wohl auch zu seinem Ruf kommt. Ruppig und unfreundlich wirken sie in der Tat. Nicht immer natürlich. Es gilt immer noch das gute alte Sprichwort: Wie du in den Wald hinein rufst, so schallt es heraus. Und wenn du eine Frau bist, so erreicht man umso schneller ein nettes Echo.
Der Rest der Brasserie besteht aus kleinen Tischen, davon viele und eng gedrängt stehen sie meist. Wenn ich in eine Brasserie gehe, fällt es mir oft schwer, einen Platz zu finden, denn gemütliche Plätze hat es nicht viele. Die Brasserie in Paris ist auch nicht dazu da, ein Buch zu lesen oder einen Brief zu schreiben. Hier wird zweckmäßig getrunken, gegessen oder geraucht, voilà! Die durchschnittliche Verweildauer liegt bei 20 Minuten, nicht bei einer Stunde. So lange verweile ich meistens in der Kneipe. So lange bis der Brief geschrieben ist, die Füße wieder unruhig zucken und der petit café seinen Preis wert war.
Die Pariser Kneipen sind aber nicht alle diese Art Brasserien. Es gibt auch Orte, die zwar den Brasserie-Charakter haben, aber dennoch mehr in Richtung Gemütlichkeit gehen. Orte, an denen man auf bequemen Stühlen sitzt und einem als Gast ein wenig mehr Platz eingeräumt wird. Raum ist ja sehr teuer in Paris und darum sitzt man tendenziell in Pariser Kneipen und Restaurants so nah an seinem Nachbarn, dass es eigentlich schon gar kein Nachbar mehr ist, sondern ein Tischgenosse. Mancherorts aber verfügt man über mehr Platz und traut sich auch schon mal länger als eine halbe Stunde zu bleiben, ohne dass der Kellner sich wundert.
Leider sind diese Kneipen/Cafés auch meistens unangenehm teuer. Das heißt, kein Kaffee unter zwei, kein Bier unter vier Euro. Ein Glas Wein ist im Verhältnis dazu preiswert. Genauso wie wir in Deutschland muss man in Paris zwischen drei und vier Euro für das Glas zahlen.
Nun bin ich aber wieder weggekommen vom „besagten Ort“. Dieser gehört zu der Kategorie gemütlicher Raum, keine Enge, lädt zum Verweilen ein, aber dabei preiswert. (Eine Kategorie, die man in Paris suchen muß). Außer der sympathischen Bücherecke, gibt es einen sympathisch hellen, großzügigen Raum mit Kunst-Fotographien. Ich erfahre, dass diese Bilder zu einem guten Zweck dort hängen. Wird eines verkauft, dann fließt das Geld notleidenden Frauen in Iran zu. Ich bin gespannt was die nächste Ausstellung sein wird. Ich mag die Philosophie des Ortes. Ich plaudere ein bisschen mit dem Chef des Ladens und er erzählt mir, dass er demnächst noch einige Aktionen plant. So freut er sich, demnächst regelmäßig Lesungen anzubieten. Sein nächstes Thema soll Südamerika sein. Dazu will er Künstler heranholen, Vorträge organisieren, Live-Musik spielen usw.
Schön! Ich freue mich, so einen Ort gefunden zu haben!



9. Überraschendes Montmartre, einen Blick dahinter geworfen und gestaunt

Lieber Theo,

eigentlich würde es sich anbieten, im 20.Arrondissement zu bleiben, wo wir im letzten Brief mitten drin, im Café „Lieu Dit“, hängen geblieben sind. Aber da ich gestern mit Michael einen Spaziergang durch Montmartre gemacht habe, habe ich nun Lust Dir davon zu erzählen. Ja, ich weiß, Montmartre kennst du, und ich weiß auch, dass es dir nicht sonderlich gefällt. Zu viel Paris auf einmal. Zu schön, zu wenig echtes Leben und natürlich zu viele Touristen, Touristenrestaurants, Touristenmaler, Touristenregenschirme. Ganz besonders unsympathisch ist der Teil, wo sich das angebliche Vergnügungsviertel befindet. Stehe ich vor dem Moulin Rouge, fühle ich mich unwohl. Für mich hat das nichts mehr mit der guten alten Zeit zu tun. Und wenn ich sehe wie man versucht krampfhaft diesen Ort zu erhalten und Touristen dort mit schlechtem Cabaret amüsieren will, dann habe ich das Gefühl ich müsste mich bei Toulouse-Lautrec, Degas, van Gogh und den anderen Künstlern aus der damaligen Clique entschuldigen dafür, dass wir so einen primitiven Ort daraus gemacht haben. Allerdings darf ich den Mund nicht so weit aufreißen, denn schließlich war ich noch nicht einmal bei einer Vorstellung im Moulin Rouge. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm wie ich es mir vorstelle. Aber das äußere Erscheinungsbild lockt mich nicht, dies zu tun. Dieses kitschige Gebäude, das im Las Vegas-Stil blinkt und zudem noch an dem viel befahrenen, hässlichen Boulevard de Clichy liegt, passt einfach nicht in mein Bild, das ich mir gerne von diesem Ort machen würde. Meine Vorstellung von ärmlichen Künstlern in Schwarz-Weiß-Paris-Romantik geht dabei einfach kaputt. Aber es sind genau die Orte an denen vor gut 100 Jahren die Künstler sich aufhielten, die heute im Sinne des Touristen verändert worden sind. Ist ja auch klar. Das ist ja genau das Paris, das der Besucher kennen lernen möchte. Das sind die Gebäude, die ihm aus der Geschichte bekannt sind wie eben das Moulin Rouge, Le chat noir, Le Lapin d`Agile.. Und als Krone obendrauf sitzt Sacre Coeur. Und davor, auf der Treppe dieser weiß leuchtenden Kirche sitzen wir, wir Touristen, wir Deutschen, Holländer, Engländer, Asiaten. Wir blicken von dort aus über die Stadt und fühlen „Jaaa! Das ist Paris!“ Hab ich selbst so mit meiner Mutter erlebt. Ihr glückliches Seufzen, als wir die Gassen rund um den Place du Tertre durchstreifen: „ Das ist genau das Paris, was in meiner Vorstellung ist. So stelle ich mir Paris vor, wenn ich von zuhause an Paris denke.“ Es stimmt natürlich, Paris ist hier wirklich sehr schön, alleine schon durch den Hügel, der einem diese Erhabenheit über die Stadt vermittelt. Hier ist man weg vom Großstadtlärm und Gestank. Die Strassen sind klein und die Häuser auch. Es ist die Freude darüber, ein kleines Dorf mitten in der Metropole gefunden zu haben. Und dann noch ein Dorf, das geprägt ist von uns heute bekannten Künstlern, die dem Ort die Romantik verleihen.
Aber wenn ich mich dort aufhalte kann ich dieses Gefühl vom zurückgezogenen Dorf nicht finden, und auch überkommt mich nicht die Inspiration, die zwar zweifelsohne in diesen Gassen steckt, aber durch die Vielzahl von Menschen, die dort eigentlich nicht hingehören, die nicht zu diesem Ort passen, verloren geht. Ich bin blind für eine Reise in die Vergangenheit wenn die Gegenwart mir hier, mit dem Anblick von bunten Postkarten, Sacre Coeurs in Plastik, Paris-Shirts und englischen Menükarten entgegenschlägt.
Und jetzt kommt das große ABER. Ich will ja nicht nur über einen Ort meckern, ich will dir ja vor allem von den schönen Dingen aus Paris erzählen. Spitz die Ohren, wenn ich dir flüstere: Es gibt es noch, das alte Paris, den Ort, an dem wir vermuten gleich mit Giacometti zusammenzustoßen, oder durch ein Fenster einem Künstler auflauern können.
Wenn du auf dem Place du Tertre bist, dann kehrst du diesem und seinen ganzen Straßenmalern den Rücken zu und gehst Richtung Norden. Du gehst die Rue des Saules entlang und hier wird es, touristisch gesehen, bereits viel ruhiger. Dabei ist dies auch ein Teil Montmartres, der viele Besucher kennt, denn hier befindet sich der Weinberg des Hügels. Nun ist das Gefühl, sich in einem Dorf zu befinden, perfekt. Am unteren Ende des Weinberges, links liegend, wenn man die Strasse hinab kommt, befindet sich ein Halbrund von Bänken, wo man herrlich sitzen kann und die Ruhe und die Schönheit des Ortes genießen kann. Am schönsten ist das an einem warmen Frühherbstabend, wenn die Bäume und die Blätter der Rebstöcke sich ins Goldene färben. Übrigens habe ich gehört, dass die beste Zeit für einen Bummel durch das touristische Montmartre der Sonntagabend ist. Da sitzen die Wochenend-Urlauber wieder in ihren Fliegern oder Zügen.
Mit Michael machte ich also gestern meine kleine Promenade durch dieses bereits aufgegebene und doch wieder gefundene Montmartre. Ich hatte ihn mal gefragt, wo er, wenn er es sich aussuchen könnte, gleichgültig, wie teuer die Gegend sein mag, am liebsten wohnen möchte. Er nannte mir die Rückseite von Montmartre. Er nannte mir auch eine Straße. Wir spazierten hin. Sie geht von der Avenue Junot aus und ist nur eine kleine Gasse, wo man tatsächlich vergisst, in Paris zu sein. Eigentlich suche ich solche Orte nicht, denn ich mag es ja, in Paris zu sein und Orte zu entdecken, die mir „pariserisch“ erscheinen. Aber ich freue mich dennoch, diese kleine Gasse, die ein wenig an Notting Hill erinnert, wie ein neues Sammlungsstück meiner Exkursionen in mein Paris-Schränkchen zu stellen.
Zu Michael passt diese Straße. Es wundert mich nicht, dass er sich diesen Ort als Wunsch-Wohnort ausgewählt hat. Michael ist mein guter deutscher Freund, der Fels in der wilden, französischen Großstadtbrandung. Ein Mann mit Bodenhaftung, auf den man sich verlassen und dem man vertrauen kann. Wenn man weit von zuhause weg ist, dann tut es gut, so einen Menschen zum Freund zu haben. Er gibt mir Sicherheit und ein Stück deutsches Heimatgefühl. Manchmal brauche ich das. Er scheint das auch zu brauchen, denn seine Wunschstraße ist auch ein Ort, der Sicherheit ausstrahlt.
Wir spazieren weiter die Avenue Junot abwärts zur Rue Caulaincourt. Hier stehen viele hohe Bäume, die die Straße selbst am Tage ganz düster aussehen läßt. Aber sie wird dadurch nicht unsympathisch, im Gegenteil. Ich weiß nicht, was es für Bäume sind, aber sie haben recht dunkle, kleine Blätter, sehen irgendwie südländisch aus. Vielleicht liegt es daran, dass mich die Straße spontan an Madrid erinnerte. Die
vier- bis fünfgeschossigen Häuser mit ihren alten Fenstern und den halbhohen Eisengittern davor, sieht man zwar in vielen Teilen der Stadt, dennoch haben sie hier auf mich spanischen Eindruck gemacht. Der verliert sich allerdings wieder, wenn man an den Blick auf das Erdgeschoss senkt und dort die französischen Geschäfte wahrnimmt. Auch hier gibt es wieder verführerische Bäckereien und kleine Läden, von denen man annehmen kann, daß es sie schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts gibt. Außerdem finden wir hier natürlich Bars und Cafés, von denen mir zwei besonders aufgefallen sind. Im Café de la Butte, saß ich an einem frühen Abend mal draußen und genoss den Platz auf der Straße, die hier, obwohl sie recht breit ist, doch sehr ruhig ist. Als ich in die Bar hineinging, fielen mir eine Menge Zeichnungen auf, die im ganzen Raum nebeneinander hängen. Auch Spiegel und Schränke sind bemalt. Ich spreche die Wirtin darauf an. Diese ist zwar etwas ruppig, aber man merkt auch den Stolz auf ihren Laden und auf den Künstler, der hier gewirkt hat, und das macht Spaß zu sehen. Beim nächsten Mal werde ich nicht draußen, sondern drinnen Platz nehmen.
Eine andere Bar habe ich durch einen französischen Freund kennen gelernt. Ludovic nahm mich mit dorthin und erzählte, sein Opa hätte früher hier im Viertel gewohnt und sei immer in diese Bar gegangen. Das ist so eine Bar, wo man am liebsten am Tresen stehen bleibt und sich mit allen unterhält weil man sich sofort zuhause fühlt. Die Bar liegt auch auf der
Rue Caulaincourt, schräg gegenüber des sehr schönen Place C. Pecqueur . Sie heißt „Le rève“- der Traum. Ich verstehe den Opa. Diese Bar hätte auch mein zweites Zuhause sein können. Als Nichtfranzose erfordert es immer etwas Mut diese Orte zu betreten, wo man davon ausgehen kann, dass niemand ein Wort Englisch, geschweige denn Deutsch sprechen kann, und man beim Eintreten als Fremder erstmal misstrauisch betrachtet wird. Tu es trotzdem! Lächle und zeige den Menschen, dass es ganz selbstverständlich ist, dass du hier bist. Lasse sie spüren, dass du diesen Ort magst. Es ist ein so schönes Gefühl, mitten im ursprünglichen Montmartre-Leben zu sein .
Das waren jetzt nur einige wenige schmucke Plätzchen der verkannten Nordseite Montmartres. Aber dieser Brief muss ja mal ein Ende nehmen. Außerdem benötige ich erst weitere Entdeckungstouren, bevor ich dich mit den daraus entstehenden Schätzen dann bereichern kann.
Also freu dich auf die nächste Schatzkiste, vielleicht birgt sie Reichtümer aus dem dritten Arrondissement. In den nächsten Tagen wollte ich mir das mal genauer anschauen.




10. Im „Sumpf“ des Konsums zwei Inseln gefunden,
eine für die Dame, einen für den Herrn

Lieber Theo,

mit dem dritten Arrondissement ist es ein bisschen wie mit Montmartre. Wir Nicht-Pariser wissen, dass es dort was zu gucken gibt. Das „Dritte“ ist dadurch in die Touristenführer gelangt, weil die kleinen Gassen noch eindeutig Spuren der Vergangenheit aufweisen. Und nicht nur die toten Spuren, die wir in Form von Architektur, Denkmälern usw. verfolgen, sondern in lebendiger Gestalt erleben wir die Geschichte hier. Marais, wie diese Gegend genannt wird, heißt „Sumpf“ oder, dem Wort ähnlicher „Morast“. Das kommt aus einer Zeit, als Paris noch so klein war, dass es auf die Ile de la Cité und die Ile St-Louis passte. Da war der Teil des heutigen Marais nord-östlich der damaligen Stadt ein Sumpfgebiet. Im 13. Jahrhundert begann seine Trockenlegung, und die Besiedelung konnte beginnen. Im 17. Jahrhundert wurde es zur bevorzugten Wohngegend des Adels, der allerdings während der Revolution 17 89 vertrieben wurde.
Seit jeher fanden Juden jeglicher Länder im Marais eine Heimat. Immer noch leben viele Juden hier. Die jüdische Gemeinde in Frankreich umfasst 800 000 Menschen, von denen fast die Hälfte in Paris, und bevorzugt im Marais lebt. Hier gibt es neben der Synagoge und den Menschen mit schwarzem Hut und lockigen Koteletten auch noch jüdische Geschäfte, Bäckereien und Restaurants.
Reiseführer betonen die jüdische Präsenz dieses Viertels als ganz besondere Attraktion und Eigenart dieser Gegend. Ich finde allerdings, dass dieses Geflecht von engen Straßen sich durch ein anderes, viel dominanteres Angesicht präsentiert. Das Marais ist im Laufe der letzten, vielleicht zwanzig bis dreißig Jahre zum In-Viertel geworden. Hier laufen die modischsten Pariser herum. Nicht die Schicken, in Haute Couture gewickelten, sondern die Mutigen, die mit ihrer Mode aus der Reihe tanzen wollen. Das Marais ist auch das Zuhause der Homosexuellen, vorwiegend Männer. Dementsprechend gibt es hier Kneipen und Geschäfte, die diese Szene ansprechen, sich aber nicht so in den Vordergrund drängen, sondern bescheiden zwischen den anderen modernen Cafés und Geschäften auftauchen.
Im Marais gibt es ganz viele schöne kleine Boutiquen. Mode, Dekorationen, Schreibwaren, hauptsächlich werden hier Dinge verkauft, die eigentlich niemand braucht. Luxusartikel halt, aber der etwas schrille, ausgefallene, junge Luxus, weniger der edle Luxus. Ich kann mich noch gut an meinen ersten Besuch in Paris erinnern, Da war ich Anfang Zwanzig, und ganz hingerissen vom Marais. Ich war diese Art Geschäfte nicht gewohnt und ganz hin und weg. Mein Budget reichte leider nur für ein paar Pariser Kunstpostkarten und ein ausgefallenes Blanko-Tagebuch. Wenn ich heute die Touristen beobachte, die sich das Marais nicht entgehen lassen wollen, erinnere ich mich manchmal an meinen ersten Besuch und meine damalige Begeisterung. Ich frage mich, ob es diesen Menschen auch so gehen mag wie mir und sie überglücklich sind, weil sie ein Aufkleberset mit französischen Aufschriften für Marmeladengläser erstanden haben?! Dieses Glücksgefühl will mich heutzutage nicht mehr packen wenn ich ein Geschäft betrete. Allerdings gibt es da ein Geschäft bei dem das Glück in kleinen Hopsersprüngen gegen mein Konsum-Herzchen klopft. Dieses Geschäft befindet sich ganz im Süden des dritten Arrondissements, fast schon an der Seine. Ich habe es bei einem Bummel durch das Künstlerdorf St. Paul entdeckt. Künstlerdorf? Ja, so nennt man den Bereich, der zwischen der Rue de Rivoli, Höhe Metro
St Paul und der Seine liegt. Dort sind viele Ateliers und auch Geschäfte, in denen Kunsthandwerk oder Antiquitäten verkauft werden. „Village St Paul“- also, Dorf wird es wohl genannt, weil es von der Rue St Paul in einigen Eingängen in die Innenhöfe geht, die miteinander verbunden sind und einem das abgeschlossene Dorf-Gefühl vermitteln. Ist nett, und wenn du sowieso auf dem Weg bist zu dem Geschäft, das ich dir jetzt beschreiben werde, dann lohnt es sich mal, in die Innenhöfe des Village St Paul hineinzuschauen. „Mein“ Geschäft befindet sich in der Rue St Paul. Wenn du von der Rue de Rivoli kommst, im letzten Drittel auf der rechten Seite. Es heißt „Au petit Bonheur la Chance“ (übersetzt: „Auf gut Glück “). Im großen Schaufenster siehst du bereits alles, was der Laden zu bieten hat. Gut, dein Herz schlägt vielleicht nicht höher, du bist ja ein Mann, aber ich sage dir, als Frau mit Hang zur Landhaus-Romantik und dann noch frankophil, eröffnet sich dir ein kleines Paradies. Die Besitzerin hat die Flohmärkte und Häuser der Region abgeklappert, bzw. macht es fortwährend und hat dabei eine Spürnase für die guten alten Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Dort gibt es z.B. alte Schulhefte (blanko!), Bleistifte und Lineale, die ich nur von Photos meiner Mutter als bezopftes Schulmädchen kenne, alte Küchenutensilien, z.B. Keramik-Aufbewahrungs-Töpfe für Kaffee, Zucker, Mehl. Natürlich auch altes Porzellan und Küchenhandtücher. Die Preise sind überraschend niedrig. Ganz besonders toll finde ich die alten Speisekarten, die sie wohl einem pleite gegangenen Restaurant abgekauft hat. Sie hat auch noch eine Menge Kellnerblöcke und sonstige französische Restaurant- Ausstattungs-Gegenstände. Außerdem ist sie an alte Marktschilder rangekommen, kleine blecherne weiße Schildchen, die ich mir z.B. in einen Blumenpott stecken würde.
Ich schätze ich langweile dich mit meiner weibischen Schwärmerei. Darum gehen wir nun ganz schnell weiter und ich zeige dir meinen Geheimtip: ein Restaurant, dass nur Eingeweihte kennen. Wir müssen dazu um ein paar Straßenecken biegen und die Rue du Cerisae finden. Sie geht vom Boulevard Henri IV ab. Da wo die Rue du Cerisae die Rue du Petit Musc kreuzt, befindet sich ein Restaurant auf der Ecke, ein unscheinbares Ding mit dem Namen „Le Temps des Cerises“( „Die Zeit der Kirschen“). Ich möchte dieses Fleckchen urtümlicher Pariser Erde gar nicht weiter beschreiben, aber ich weiß, du würdest dein verkratztes Glas Ricard heben und sagen: „Meine Liebe, ich kann mich nur immer wieder wundern, wie du es immer wieder schaffst, Orte aufzutun, die noch kein Ausländer vor dir betreten zu haben scheint und die so ursprünglich französisch sind, daß ich das Gefühl habe, in einen Filmdreh hineingeraten zu sein.“ Dann würdest du unterbrochen, weil der Kellner uns die Tafel auf den Tisch stellt und das Tagesmenü verkündet. Ohne zu wissen, was es ist, würden wir es bestellen, du würdest mir zuprosten, und du würdest den furchtbaren Satz sagen:
„Leben wie Gott in Frankreich!“






11. Markt der roten Kinder, und der außergewöhnlichen Begegnungen

Lieber Theo,

wir sind noch nicht fertig mit unserem Spaziergang durch das dritte Arrondissement. Würdest du dich für Mode interessieren, hättest du deinen Spaß, während wir durch die Rue Vieille du Temple spazieren. Es gibt dort eine Menge Herrenausstatter. Allerdings ist hier alles etwas teurer. Aber das Schaufenstergucken macht auch Spaß, vor allem in so einer schönen Straße. Sie ist irgendwie so hell und freundlich. Sie liegt mitten drin im Geschehen und ist doch eher ruhig. Ich mag sie, und sie ist auch noch recht lang, so dass ich sie lange genießen kann. Ich biege allerdings irgendwann ab in die Rue de Bretagne. Ich lasse mich von meinem Entdecker-Instinkt leiten und der führt mich, wofür ich ihm sehr dankbar bin, wieder zu einem Schatz: Ich spaziere die Rue de Bretagne entlang, eine sehr nette Straße, mit viel zum Gucken. Es gibt viele kleine Obst- und Gemüseläden, Delikatessengeschäfte und Cafés, die die Straße lebendig machen. Plötzlich taucht zu meiner Linken ein Eingang auf und darüber ein Schild: „Marché aux enfants rouges“. Ich denke zuerst, die haben da vielleicht ein Stadtviertel-Fest. Schüchtern wage ich mich in eine Art Innenhof, und da sehe ich, was sich tatsächlich dahinter verbirgt: ein Markt! Ich liebe Märkte! Dieser ist ganz besonders schön. Alleine schon durch seine geographische Lage im schönen dritten Arrondissement, unweit der schmucken Mairie des Dritten („La Mairie“ ist das Rathaus. Eigentlich heißt Rathaus auf Französisch Hôtel de Ville, aber in Paris heißt so nur das zentrale Rathaus an der Rue de Rivoli, alle anderen Arrondissement-Rathäuser heißen Mairie). Mir gefällt aber der Hinterhofcharakter des Marktes und das halboffene Dach darüber, das ihm so etwas Heimeliges gibt. Die Marktstände sind auch mal was anderes als das Übliche. Klar, das Übliche, Obst- und Gemüse, ist auch dabei, aber auch viele Blumen und vor allem Stände, an denen Essen zubereitet wird. Ein Italiener, der frische Pasta und Pizza verkauft, und der ein paar lange Holztische neben seinem Stand hat, damit man sein Essen auch in Ruhe genießen kann. Dann gibt es noch einen Stand mit arabischen Köstlichkeiten, hier auch wieder Tische dabei, sogar schöne Mosaiktische. In einer Ecke des Marktes befindet sich ein Restaurant, „L’Estaminet“ heißt es. Mir, mit meinem Faible für Landhausstil, gefällt dieser Ort wieder ganz besonders. Massive Holzmöbel, rustikale Wände, frische Blumen und eine einfache, natürliche Speisekarte (die Preise sind zu verkraften). Auch hier kann man draußen sitzen und dem Marktleben zuschauen. Ich bin wirklich ein kleiner Voyeur, ich liebe diese Aussichtsplätze, um das Leben an mir vorüberziehen zu lassen.
Eines schönen Tages, wollte ich nicht nur Leben an mir vorüberziehen lassen, sondern auch festhalten, und zwar auf Photos. Ich brachte meine Kamera mit, und schlich durch die Marktstände auf der Suche nach Motiven. Ich kam bei dem Italiener vorbei, der sah mich und stellte sich, ganz italienischer Temperamentsbolzen, in Pose. Gerne mache ich ein Photo von ihm. Er ist lustig, wie er sich zwei Teller an die Ohren hält und aussieht wie Mickey Mouse. Natürlich fangen wir an uns zu unterhalten, und stecken ganz schnell, ganz tief drin in Themen, die eher nicht die üblichen Marktgespräche sind. Es geht um Glück und das Suchen danach, Arbeit und das in Frage stellen derselben. Er erzählte mir, ganz stolz und geheimnisvoll, dass er jetzt endlich einen Traum realisiert hätte. Er wollte so nicht ewig weitermachen. Er sei seit sieben Jahren auf diesem Markt, es läuft ja gut, aber irgendwie... So richtig glücklich sei er, wenn er auf dem Land ist, wenn er Gemüse und Pflanzen wachsen sieht, ernten kann und genießen. Oh, ich verstehe....! So ein Mensch hat in Paris natürlich auf Dauer große Sehnsucht. Er hat diese Sehnsucht gestillt. Hat sich ein Fleckchen Erde mit dazugehöriger Haus-Ruine gekauft, achtzig Kilometer von Paris, und baut und bastelt da zu jeder Gelegenheit, um sich sein kleines Paradies zu schaffen.
Ich sage ihm, dass sich angeblich alle sieben Jahre etwas in unserem Leben grundlegend ändert. Er wird nachdenklich, scheint in seiner Vergangenheit zu rechnen und ist dann fast geschockt: „Ma siiii, c’est vrrrai“ Er stellt fest, dass das auf sein bisheriges Leben absolut zutrifft. Er lädt mich ein, ihn einmal zu begleiten zu seinem Paradies. Es gibt Momente, da kippt die Stimmung in einem Gespräch, die Magie ist weg, es wird banal. Bevor sich dieser Moment durchsetzten kann, hänge ich mir wieder die Kamera um den Hals und danke für den Espresso. Auch er versteht, steht auf und wir drücken uns feste, mit zwei Wangenküssen, die von Herzen kommen.

Und nun noch eine Geschichte zu dem Namen dieses Ortes: „Marché aux enfants rouges“ heißt soviel wie „Markt der roten Kinder“. An diesem Ort stand früher ein Waisenhaus. Die Kinder trugen uniforme Kleidungsstücke, und die waren rot.
Der Markt hat sechs Tage die Woche geöffnet, am Montag, wie so vieles, bleibt er leider geschlossen.


12. Kultur im Dritten

Lieber Theo,

Das dritte Arrondissement hat so viel zu bieten, dass ich ihm noch einen Brief widmen muss. (Und ich fürchte, es werden weitere folgen).
Wir begeben uns wieder in Richtung südliches Marais, überqueren die Rue de Rivoli, wir können direkt vor der Metrostation St Paul die kleine Gasse nehmen, die sich dort zwischen zwei Häusern auftut. Es stinkt allerdings meistens ein wenig nach Pipi, und vermutlich werden wir auch von dem Clochard angesprochen, der dort auf einer Matratze zuhause ist (mich fragte er einmal: „Et quand est-ce qu’on se marie?“ Er war aber gar nicht sauer, als ich ihm sagte, dass ich ihn heute nicht mehr heiraten werde).
In der Regel lieben wir Menschen ja kleine Gassen. Ich kann mir nicht so ganz erklären, woran das liegt. Vielleicht verbinden wir das einfach mit einem besonders sehenswerten Ort, schließlich bestehen die Altstädte, der Orte, die wir seit der Kindheit in sonntäglichen Besuchen durchstreift haben, grundsätzlich aus engen Gassen.
Wir kommen dann auf die Rue de Charlemagne und biegen nach rechts und dann wieder nach links auf die Rue de Fourcy. Zu unserer Rechten tut sich nun das Musée de la Photographie Européenne auf. Hätten wir nicht gerade ein anderes Ziel, mit dem ich dich überraschen will, würde ich einen Besuch in dem Museum für Photographie aufs Programm setzen. Ich mag diesen Ort wirklich sehr gerne. Auf drei Etagen, plus Keller, in dem sich ein originelles Café befindet, gibt es verschiedene Ausstellungen zu sehen. Ich habe an diesem Ort schon viel Inspiration geschöpft. Angenehm ist auch, dass dort mittwochs von 17 Uhr bis 20 Uhr der Eintritt frei ist. Es ist dann allerdings auch etwas voller als zu anderen Zeiten.
Aber wir gehen weiter und biegen die nächste Straße nach links. Diese kurze schmale Straße gehen wir entlang und umrunden damit bereits unser Ziel. Es ist die Bibliothèque Forney, ehemals das Hotel de Sens. Die Geschichte dieses Ortes habe ich vergessen. Du weißt, ich habe ein extremes Kurzzeitgedächtnis, was Historie angeht. Aber vor dem Gebäude steht ein Schild, und da kannst du den von mir nicht gestillten Wissensdurst löschen und erfährst, dass es ein ehemaliges Kloster war, und was es sonst noch darüber zu berichten gibt. Heute jedenfalls befindet sich eine wunderschöne Bibliothek darin, spezialisiert auf Kunst. Vorwiegend findet man dort Bücher und auch viele Zeitschriften zu Mode-Themen, Photographie, Filmemachern, Architektur, und Malern. Ich vernachlässige wahrscheinlich noch andere Themen, aber da das die Themen waren, die mich besonders interessiert haben, sind mir die weiteren Themengebiete wohl verborgen geblieben. Das Gebäude wurde 1475 bis 1519 gebaut. Es ist ein wunderschöner mittelalterlicher Bau. Die Bibliothek ist relativ klein, verglichen mit einer Stadt- oder gar Staatsbibliothek. Sie besteht aus vier Räumen. In allen werfen die alten Butzenglasscheiben ihren Charakter in die Atmosphäre, die im Inneren herrscht. Viel massives Holz des Mobiliars und der Treppen- und Galerie-Geländer, sowie die mächtigen Mauern, tun ihr Übriges, um hier einen Hauch vergangener Jahrhunderte wehen zu lassen. Gut, das hat ein Schloss, dass ich besichtige, auch, aber dort kann ich nicht stundenlang in Büchern schmökern und mir mit meinem Benutzerausweis das Gefühl geben, ein Stück des Hauses zu besitzen. (Man braucht übrigens den Ausweis nur zum Ausleihen. Zum Lesen vor Ort kann man ganz einfach hineinspazieren. Lass dich nicht beirren von dem Menschen, der am Eingang sitzt und der Schranke, durch die man hindurch muss).
Der Bequemlichkeit halber nenne ich dir auch noch die Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag, 13.30 Uhr bis 19 Uhr
Übrigens haben die Pariser Bibliotheken in aller Regel von Dienstag bis Samstag geöffnet. Darum finde ich den Montag so einen furchtbaren Tag. Fast alle kulturellen Einrichtungen haben dann geschlossen, sogar manche kleinen Geschäfte haben noch nicht mit dieser alten Tradition gebrochen. Das ist so eine (Un-) Sitte in Frankreich. In der Provinz ist es noch viel schlimmer. Da werden manche Städte montags zu richtigen Geisterstädten, weil alles geschlossen hat. Märkte gibt es auch ganz selten am ersten Tag der Woche. Ich muss mal recherchieren, warum das so ist. Das hat doch bestimmt einen Ursprung irgendwo. Vermutlich kann man es nicht einfach damit erklären, daß die genießerischen Franzosen sich übers Wochenende so mit Leckereien voll gestopft haben, dass sie sich montags nicht mehr rühren können, geschweige denn an den Einkauf von Nahrungsmitteln denken mögen.
Gibt es eigentlich irgendjemanden, der für sich den Montag zu seinem Lieblingstag auserkoren hat?

13. Pariser Sonntage- Klischees von Essen und Trinken

Lieber Theo,

gestern war Sonntag und ich habe etwas erlebt, dass man nur sonntags in Paris erleben kann.
Irgendwann werde ich wohl dazu kommen, dir zu erzählen, was ich erlebt habe, aber erst mal muss ich ein paar (ganz viele) Worte generell zum Pariser Sonntag loswerden.
Der Sonntag verwandelt Paris. Am Sonntag scheinen die Pariser sich daran zu erinnern, in welch einer schönen Stadt sie leben. Laufen sie von Montag bis Samstag durch die Straßen mit gesenktem Kopf, dem Blick auf die Uhr und mit Gedanken bei der Arbeit, den Pflichten, den Kindern, dem Einkauf, versuchen sie am Sonntag das nachzuholen, was sie sonst vernachlässigen. Ich habe das Gefühl, dass die Pariser ein sonntägliches Abhängen, ein faules Zuhause bleiben und trautes-Heim-Zelebrieren nicht kennen. Ich beschreibe jetzt mal den grundsätzlichen Tagesablauf des Parisers am Sonntag (Achtung: hier wimmelt es natürlich vor Verallgemeinerungen. Es gibt natürlich immer noch eine Menge Menschen, auf die meine Beschreibung nicht zutrifft): Erst mal wird natürlich ausgeschlafen, nicht ewig lang, denn man will ja was von seinem Sonntag haben. So gegen elf sind die meisten auf den Beinen und nicht selten bereits beim Bäcker oder auf einem Markt anzutreffen. Diese Gänge verbindet der Pariser auch am Sonntag gerne mit einem Besuch im Café. Allerdings hat sich das am Sonntag auch verändert. Sonntags ist hier „Familientag“. Wo sonst hauptsächlich Männer an der Theke lehnen und Zeitung lesen oder diskutieren, ist die Bar am Sonntag auch von Frauen besucht, die ihre Männer begleiten, oder es findet sich sogar die ganze Familie zu Café, Chocolat Chaud (heißem Kakao) und Croissants ein.
Übrigens, an dieser Stelle will ich dir ein französisches Gewußt-wie mitteilen, dass mir und meinem Portemonnaie schon oft Freude bereitet hat: Wenn du in einem Café ein Getränk einnimmst, hast du in aller Regel das Recht, ein mitgebrachtes Gebäckstück oder sogar ein belegtes Baguette, das du vorher in einer Bäckerei gekauft hast, zu verzehren. Allerdings gilt das eigentlich nur dort, wo nicht Sandwiches auf der Karte stehen. Das ist jedoch in vielen Brasserien nicht der Fall. Also eine prima Variante, ein preiswertes Mittagessen oder Frühstück im Sitzen bei einem warmen Kaffee einzunehmen.
Zurück zum Pariser Sonntag: Wenn PariserIn also entweder allein oder mit Familie den morgendlichen Bummel im Viertel hinter sich gebracht hat, geht es entweder heim zum Kochen der frischen Zutaten, oder man gönnt sich ein Mittagessen in einem Restaurant. Das gute Essen, was ja in Frankreich allerorts einen hohen Stellenwert hat, gehört am Sonntag auf jeden Fall zum Genussprogramm. Nach dem Mittagessen und einem kurzen Ausruhen kommt „la petite promenade du dimanche“, der kleine Sonntagsspaziergang. Der kann die Pariser gerne in ein Museum, eine Ausstellung, eine Veranstaltung, wie ein Konzert oder ein (Kinder-) Theater führen, oder einfach in einem der überfüllten Parks stattfinden. Auch die Seine ist ein beliebtes Ziel für die „petite promenade“. Was es natürlich in Paris nicht gibt, ist unser deutsches „Kaffee und Kuchen“ (was auch kein Wunder ist, wenn man bedenkt, was zu Mittag bereits alles im Bauch verschwand). Ein befreundeter Franzose, der seit Jahren mit einer Deutschen verheiratet ist und am Bodensee lebt, erzählte mir einmal, er könnte sich einfach nicht mit dem Kaffeekränzchen am Sonntag anfreunden. Er finde, das reiße den Nachmittag so auseinander. Dann muß man zu den Schwiegereltern fahren, schlechten Filterkaffee trinken und fette Torte essen. Ich frage mich aber, wer zelebriert in Deutschland noch den Vier-Uhr-Kaffee? Meine Großeltern selbstverständlich, und das sogar jeden Tag. Meine Eltern bringen Sonntags auch gerne mal einen Kuchen auf den Tisch, aber das kommt mir weniger wie eine strenge deutsche Einhaltung immer da gewesener Sitten vor, als vielmehr wie ein lieb gewonnenes Ritual.
In Frankreich jedenfalls gibt es selten Torte. Kuchen oder süße Gebäckstücke gibt es hier zum Dessert. Das kann in Form einer Tarte (dünner Hefe- oder Blätterteigboden mit Früchten bedeckt, hm!) oder einer kleinen Sünde im sahnigen Kleid, auf dem Teller liegen.
Dieses Dessert kauft der Pariser morgens beim Baguettekaufen. Das ist in den kleinen hübschen Kartons drin, die die Menschen sonntags morgens mit sich führen.
Ich bin eigentlich sehr begeistert von der Art, wie die Franzosen ihre Mahlzeit einnehmen. Ich meine nun nicht die Art, wie sie ihr Croissant in den Kaffee tunken und ihnen beim Abbeißen die Flüssigkeit das Kinn hinunter läuft. Es ist auch nichts Außergewöhnliches dabei, wie sie auf der Straße ein Sandwich oder einen Crêpe verschlingen. Sondern ich meine die übliche Form, mit der sie eine Mahlzeit, meist ein mehrgängiges Menü einnehmen und meist gemeinsam mit Freunden oder Familie zelebrieren.
Wenn du zu einem „Diner entre amis“- einem Abendessen unter Freunden eingeladen wirst, kannst du dich freuen. Ich genieße diese Abende sehr. Sie beginnen mit dem obligatorischen Apéritif. In jeder französischen Wohnung findet sich irgendwo ein Fleckchen Bar. Das kann eine vorzeigbare, bestens ausgerüstete Bar mit Kühlschrank, Theke und Barhocker sein, ist aber in den meisten Fällen eine Nische im Schrank, wo sich ein paar Flaschen Hochprozentiges (Pastis, Whiskey und Portwein sind die Standards) und Knabbereien befinden. Der „Apéro“ kann lange dauern, und oft ist man heilfroh, dass es auf den Alkohol endlich feste Nahrung gibt, sofern man vor lauter Knabberzeug nicht längst satt ist.
Das Menü besteht immer mindestens aus Vorspeise, Hauptgericht, Käse und/oder Dessert, meistens beidem (Entrée, Plat, Fromage, Dessert). So selbstverständlich, wie wir Kaffee zum Kuchen trinken, wird es bei Pierre, Paul und Jacques, Brot und Wein zum Essen geben, und nach dem Essen café oder tisane (Kräutertee) angeboten werden. Für die einzelnen Mahlzeiten wird meistens bis zum Dessert der gleiche Teller benutzt. Man hat ja das Brot, um den Teller von Saucenresten etc. zu säubern und für den nächsten Gang herauszuputzen. Meistens gibt es zum gesamten Essen einen Rotwein, der gerne mal vom Hausherrn aus dem Keller geholt und stolz angepriesen wird. (Leitungs-) Wasser steht immer auf dem Tisch. Zum Nachtisch wird gerne eine Flasche Champagner entkorkt.
Wir halten die Franzosen ja gerne für ein dem Alkohol zugewandten Volk. Das stimmt auch. Alkohol ist oft dabei. Fast täglich sieht der Franzose eine Pfütze roten Wein. Aber bei der Pfütze bleibt es auch oft. Ich will sagen: Franzosen trinken häufig, aber viel weniger als wir. Wenn wir Deutschen eine Flasche aufmachen, ist es gleich beinahe ein Ereignis und wir schaffen es meistens, sie leer zu trinken. Die Franzosen schätzen ihr Glas zum Essen. Es gehört einfach dazu wie Messer und Gabel. Aber sie trinken sehr langsam und bedacht. Ich finde wirklich, wir könnten von ihrer Wertschätzung für Speis’ und Trank noch etwas lernen.
Nach dem Essen gibt es also noch Kaffee oder Tee, und wenn man sich dann vom Tisch erhebt, sind gut und gerne zwei bis drei bis vier Stunden vergangen.
Die Gespräche, die beim Essen geführt werden, drehen sich auch meistens um das Essen. Wie gut es schmeckt! Wie es wurde, was es ist? Welche Varianten hat man davon schon gegessen? Pilzzeit, Spargelzeit, Erdbeersaison, ...que c’est bon!!
Eine Französin, die in Berlin die Wohnung mit mir teilte, hat beim gemeinsamen Essen einmal zu mir gesagt:„Wie kommt das nur, dass ihr Deutschen beim Essen über so viele Dinge redet, nur nicht über das Essen selber?“ Ich denke sehr oft an ihre erstaunte Frage und ich stelle seitdem erst fest, dass sie Recht hat. Wir sagen zwar oft, dass es gut schmeckt und machen dem Koch oder der Köchin Komplimente, aber das ist in der Regel schnell erledigt und dann spricht man wieder über dies und das.
Im umgekehrten Fall sagte ein Österreicher, der seit Jahren in Paris lebt, einmal zu mir:
„Die Franzosen machen aus jeder noch so banalen Aktion, wie zum Beispiel Brot kaufen, eine Theaterinszenierung.“ Auch er hat nicht Unrecht. Die Franzosen mit ihrer Liebe zu ihrem Land und den guten Nahrungsmitteln, die dort gedeihen, machen aus Aktionen, die mit der Nahrungsaufnahme zu tun haben, gerne ein Fest.
Ich würde sagen: Jeder soll tun, was ihm am meisten Spaß macht. Solange er sein Essen bewusst wahrnimmt und genießen kann, sind alle Ausgestaltungen erlaubt.
So, mein Lieber, der Brief ist schon so lang und der Sonntag immer noch nicht rum. Aber im nächsten Brief geht’s weiter, mit meiner schönen Sonntags-Episode.






14. Ein Sonntag, wie ihn die Pariser kaum verbringen

Lieber Theo,

mein schöner Pariser Sonntag begann früh. Um neun Uhr habe ich mich mit Olivier verabredet. Wir trafen uns am Place de la Nation, (vor vielen Jahren hieß er so, heute nennt man ihn nur noch „Nation“). Wir taten das, was in Paris so gut wie niemand tut: Radfahren (das war die Zeit vor velib`- dem Fahrradmietsystem) . Es ist klar, dass die Fortbewegung auf dem unmotorisierten Zweirad hier keine Anhänger findet, denn in dieser verkehrs-chaotischen Stadt musst du höllisch aufpassen und kommst dabei auch nicht viel schneller voran als zu Fuß, weil dir ständig irgendein Hindernis im Weg ist. Aber am Sonntag ist das anders. Der Verkehr ist, vor allem am Vormittag, noch nicht erwacht, und somit hast du freie Fahrt.
Wir radelten von Nation aus in Richtung Gambetta und nahmen erst mal eine Kaffeepause in dem schönen Café vor dem östlichen Ausgang des Friedhofs Père Lachaise, das ich dir bereits beschrieben habe. Es war noch etwas frisch draußen, aber die Sonne schien schon und weckte die Lebensenergie. Wir waren die einzigen Gäste, die draußen am Tisch saßen. Vom Friedhof her zwitscherten die Vögel. Ein skurriler Gegensatz: Ein Friedhof, ein Ort der letzten Ruhe, der sich aber aus der Großstadt heraushebt wie eine grüne Lunge, die klare Luft und lebendiges Gezwitscher hervorbringt. Wir verweilten nicht so lange an diesem ruhigen Ort, denn wir wollten die Magie des Morgens nicht verpassen. Wir fuhren weiter, kreuz und quer durch das 11te und 12te Arrondissement. Ich entdeckte noch wunderschöne Wohngegenden, in die dich kein Reiseführer schickt. Um den Platz der Kirche St. Ambroise (bei der Metro-Station St Ambroise) überraschte uns ein Brocante (du kennst das vielleicht eher unter „Marché aux Puces“. Es ist, meines Wissens nach, dasselbe Prinzip. Der Flohmarkt scheint aber in den letzten Jahren den Namen geändert zu haben).
Weißt du, wie wohltuend die Stimmung ist, sonntags morgens, in frühling’scher Tagesvorfreude auf einem Flohmarkt, wo die Menschen, noch müde, aber gut gelaunt, dabei sind, ihre Waren auszupacken!?
Langsam spazierten wir daran vorbei, werfen Blicke auf angeschlagenes Geschirr aus Omas Schrank, auf hübsche Häkelbordüren, auf einen Stapel CDs aus den 80ern und dazwischen immer wieder antike Schmuckstückchen. Da Olivier ein klischeegetreuer Mann ist, konnte ich dem Trödel leider nicht die Zeit widmen, die ich mir gerne dafür genommen hätte. Wir verlangsamten zwar die Fahrt, er radelte aber unerbittlich weiter in Richtung Bastille. Dort bogen wir in die Straße, die ich immer schon mal am verkehrsarmen Sonntagmorgen entlang radeln wollte: Die Rue de Rivoli. Eine Kommerzstrasse, die aber gleichzeitig durch die Architektur einzelner Gebäude sehr erhaben ist. Die Geschäfte haben Persönlichkeit, und das oft zu Preisen die sich unsereins auch schon mal leisten kann. Eine gute Straße übrigens zum Schuhe kaufen. Plötzlich hatte ich eine großartige Idee: Links fuhren wir in eine kleine Straße, die Rue Tiron, die auf die Rue Francois Miron stößt. Dort an der Straßenecke gibt es eine Bäckerei, die nicht nur den Magen erfreut, sondern auch das Auge. Es ist so eine typische Pariser-Postkarten-Boulangerie, goldene Schrift, altes Mobiliar, wunderschöne Bodenkacheln usw. Kein Wunder dass sie diesen Namen trägt: „Au Petit Versailles du Marais“. „Im kleinen Versailles des Marais“ kauften wir uns zwei Pains aux Raisins (du würdest sie Rosinenschnecke nennen, aber nur so lange du sie nicht gekostet hast, denn auf deiner Zunge werden sie zu Pain aux Raisins). Ich habe mal ein paar Bäckereien auf die Qualität dieses Gebäcks getestet, und diese hat sich mit „sehr gut“ in meinem Hirn verewigt.
Jetzt brauchten wir nur noch einen guten Platz, der dem Genuss dieser Köstlichkeit gerecht wurde. Wir wählten eine sonnige Bank im Garten des Picasso-Museums, das sich mitten im Marais befindet.
Es war nun schon früher Mittag, und die Stadt wurde lebhafter. Es ist gut so, denn wäre das nicht so, wäre auch der Morgen nicht so besonders magisch gewesen. Das kann er ja nur sein, weil es so außergewöhnlich ist, so wenig Menschen zu begegnen. Wenn man ihnen begegnet, herrscht fast eine Komplizenhaftigkeit, so als würde man sich mit einem Augenzwinkern zu verstehen geben, dass es bedeutsam ist, sich als die wenigen Menschen, die auf den Beinen sind, zu treffen.
Wir gaben unseren sonnigen Platz wieder frei und machten uns auf den Weg in Richtung Norden. Olivier wollte durch das neunte Arrondissement fahren, an den Kaufhäusern Lafayette und Printemps entlang, die heute wie große, versteinerte Dinosaurier daliegen, in ihr Sonntagskleid gehüllt. Ich mag diese Gegend eigentlich nicht so gerne. Ich kann allerdings nicht begründen, woran das liegt. Ich empfinde sie als düster.
Aber irgendwann waren wir auch durch die Dunkelheit hindurch und erblickten das strahlende Weiß von Sacré Coeur. Das war allerdings ein weniger großes Vergnügen, mit dem Rad auf den Montmartre-Berg hinaufzuhecheln. Wir hielten uns nur die Zeit, die wir zum Verschnaufen brauchten, auf der Südseite Montmartres auf, dann nahmen wir die Abfahrt am Weinberg vorbei auf die schöne Rue Coulaincourt, wo Olivier vor der nächsten Bäckerei stehen blieb und sich durch das Schaufenster von einer Religieuse verführen lässt.
(Religieuse ist eine Todsünde aus Sahne, Teig, Sahne, Schokolade und Sahne. Ich habe versucht herauszufinden, warum dieses süße Ding den Namen „Die Religiöse“ trägt, aber keine der Bäckereifachverkäuferinnen, die ich danach fragte, konnten meine Frage beantworten. Eine Vermutung ist, sie trage diesen Namen in Anlehnung an ihre Form, die einer Bischofsmütze ähnelt)
Wir radelten kreuz und quer in Richtung Heimat, nahmen die Straßen, die uns gefielen, kamen dabei wieder an einem Flohmarkt vorbei. Die Sonne stand schon tief.
An diesem Sonntag nahmen wir eine Menge schöner Momente mit, man könnte sie auch romantisch nennen. Wir erlebten das Erwachen der Stadt, die Menschen, die ihren ersten Aktivitäten nachgehen und das mit der sonntäglichen Gelassenheit, das Licht des Morgens zwischen den Straßenschluchten, die frühen Flohmarktverkäufer beim Auspacken ihrer Ware und nun auch wieder andere Menschen, die ihre Waren zusammenpacken. Dieses Einpacken der Bücher, Schallplatten, Kleidungsstücke ... wirkte wie unser eingeläutetes Tagesende. Wir machten alle Feierabend an diesem Tag. Nur diesmal war es umgekehrt: der Tag war das Fest, der Abend war nur noch Ausklang und nachhaltiger Genuss dieses vollen Sonntags.



15. Immer wieder Sonntags...

Lieber Theo,

mein Mitteilungsdrang in Sachen Pariser Sonntage ist noch nicht erschöpft. Es gibt ja viele Dinge, die man sonntags in Paris machen kann. Außer einer so wunderbaren Radtour kann man auch noch andere Dinge tun, die nur sonntags dieses gewisse Etwas besitzen. Dieses gewisse Etwas setzt sich zusammen aus dem Gefühl, eine ganz besonders schöne Sache für sich entdeckt zu haben, ein Tarzan im Stadtdschungel, ein Columbus im Aufspüren verborgender Orte gewesen zu sein. Einer dieser Orte, der gar nicht mal so verborgen ist, ist der Markt in der Rue Mouffetard. Diesen Markt gibt es, außer am langweiligen Montag, jeden Tag in verkleinerter Form, aber am Sonntag blüht er richtig auf. Nicht nur Blumen, Früchte und Gemüse blühen hier unter den Augen der zahlreichen Marktbummler, sondern es gibt auch aufblühende Menschen zu beobachten. Am unteren Ende der Rue Mouffetard, auf dem Platz vor der Kirche, versammelt sich eine Gruppe musikfreudiger Franzosen der älteren Generation. Sie spielen alte französische Chansons und wenn ich mir die Reaktionen der Zuhörer anschaue, scheint mir, sie spielen Lieder, die in Frankreich Kultstatus haben. Einer der Musiktruppe, ein alter Mann mit strahlenden Augen, verteilt Liedtexte an die Umstehenden. Merkwürdigerweise machen die sogar mit. Es wird freudig mitgesungen. Die Atmosphäre des Marktes, die Entspanntheit des Sonntags und die Stimmung, die die Lieder verbreiten, vertreiben die Schüchternheit. Aber es bleibt nicht nur beim Singen. Die Sänger machen einen Halbkreis um die Musikanten und in dessen Mitte wird getanzt. Herrlich! Wirklich, hier bekommst du eine Ahnung von dem, was Paris früher war. Diese Ahnung wird verlängert, wenn du in die Bar gehst, die auf halber Höhe des Marktreibens in der Rue Mouffetard liegt. Ich würde dir gerne ihren Namen nennen, damit du sie besser finden kannst, aber sie hat keinen Namen. „Bar Tabac“ steht daran, das ist alles. Hausnummer 118.
Das Publikum des sonntäglichen Mouffetard-Marktes ist sehr interessant. In diesem Teil der Stadt gibt es kaum Farbige, auch Nordafrikaner sind hier seltener, und Asiaten sieht man eigentlich gar nicht. Mir scheint, hier leben die Franzosen, die bereits seit 30 Jahren ihrem Viertel treu geblieben sind. Das können aber nur die, die über ein gutes Einkommen verfügen. Nicht Bankdirektoren und Großunternehmer wohnen hier, sondern eher die, die das Glück hatten, bei ihrem erwählten Beruf bleiben zu können und damit über ein gesichertes Einkommen, sowie eine passable Rente zu verfügen. Sie sehen so als, als hätte ihre Beschäftigung im Bereich Kultur, Kunst, Literatur, Wissenschaft gelegen. Und es sind waschechte Franzosen, die gutes Essen lieben und den Klischees ihrer Nation die Treue halten.
Neben den Menschen aus dem Viertel sieht man viele Touristen, die sich durch die enge Rue Mouffetard schlängeln. Aber mich stören sie hier gar nicht. Ich merke, dass sie diesen Ort nicht verändern können. Er bleibt „la France profonde“- tiefstes Frankreich, nicht geographisch, sondern kulturell gesehen.
Ich war schon oft auf dem Sonntags-Markt der Rue Mouffetard. Oft findet auch parallel dazu, auf dem Place Monge, ein Brocante statt. Außerdem passe ich gerne auf, was im Laufe des Vormittags in der Rue Mouffetard passiert, denn meistens kommen Menschen in Kostümen durch die Strasse und machen Werbung für ihr Theaterstück, das sie meist noch am selben Tag in der Nähe aufführen. Im oberen Teil der Strasse lassen sich oft Musikanten nieder, die oft richtig schöne Musik machen.
Ich gehe nicht immer in die Bar ohne Namen, denn da ist es mir zu eng und unruhig. Wenn ich schreiben will, gehe ich lieber ins
„Le Mouffetard“, ein paar Schritte weiter, oder ins „Cave de Bourgogne“ unten am Ende der Rue Mouffetard, Nr.144. Das beste Baguette oder vielleicht die besten Patisserie-Waren scheint es in der Bäckerei „Le Boulanger de Monge“ zu geben (Ecke Rue Monge und Avenue des Gobelins), denn davor gibt es immer eine lange Schlange. Ich habe die Verlockungen des Monge-Bäckers noch nicht probiert, ich habe nicht so eine Bereitschaft zum Anstehen, wie die Pariser sie haben. Ich wundere mich so oft darüber, wie dieses Volk sich, ohne mit der Wimper zu zucken, in eine Schlange einreiht, von dessen Länge man darauf schließen kann, mindestens eine halbe Stunde warten zu müssen, um an sein Ziel zu gelangen. So geschieht es ständig vor Museen, vor allem an Tagen mit verbilligtem oder freiem Eintritt (jeden ersten Sonntag im Monat) oder bei besonders angesagten Ausstellungen. Die Pariser sind, was das Warten in langen Schlangen angeht, so belastbar, dass ihnen selbst kalte Temperaturen, Regen oder das Quengeln ihrer Kinder nichts auszumachen scheinen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass es sie irgendwie sogar stolz macht sich in der Schlange vor der bedeutsamen Ausstellungen oder der besten Bäckerei zu befinden.
Ich hab’ sie lieb, die „Froschschenkelfresser“!
Einen dicken Kuss aus der Stadt der ungeahnten Möglichkeiten!







16. Trübe Sonntagslaune- was zu tun, und was nicht zu tun ist

Lieber Theo,

Schaffst du noch einen Sonntag? Vier Sonntage am Stück, das ist eigentlich ein großes Geschenk. Wenn du es nicht magst, dann lass diesen Brief erst mal in der Schublade, und warte auf den nächsten. Ich verspreche dir, bis dahin habe auch ich genug von Sonntagen.

Du weißt ja, ich bin eigentlich ein Mensch, der Sonntage überhaupt nicht mag. Ich fand diesen Tag grauenvoll, an dem die Städte, besonders kleinere Städte, durch die geschlossenen Türen, der Geschäfte und die wenigen Menschen, die durch die Straßen laufen so leblos aussehen. Ich finde, der Sonntag hüllt eine Stadt in einen Schleier von Melancholie. Wenn ich an Sonntage in der Stadt denke, kommen sie mir immer grau vor. Je größer eine Stadt ist, desto dünner wird ihr Sonntags-Melancholie-Schleier. Vermutlich weil in den großen Städten auch am hochheiligen Sonntag Leben draußen sichtbar wird.
Aber auch in Paris habe ich die Erfahrung gemacht, dass es Dinge gibt, die ich sonntags meiden sollte, die mir schlechte Laune machen. Ich denke da an einen Tag, an dem ich bereits mit schlechter Laune aufwachte.
Ich hatte schlechte Laune, sage ich und schiebe damit die ganze Schuld auf die schlechte Laune. Als sei sie eine willkürliche Krankheit, die einen einfach so befällt. Natürlich hatte die schlechte Laune ihren Grund sich bei mir niederzulassen: Ich fühlte mich einsam. An einem Sonntag kann so was ganz schnell gehen. Da kann auch eine Stadt wie Paris, die um dich herum ist und dir ihre Schönheit ins Gesicht schreit, und von dir fordert, dass du mit strahlendem, staunendem Blick durch ihre prachtvollen Straßen läufst, dir nicht helfen in deinem Seelenleid. Im Gegenteil, du fühlst dich doppelt schlecht, weil du deine Zeit hier mit traurig sein verbringst, anstatt sie zu nutzen um dich an den Früchten, die in deinem Garten wachsen, zu erfreuen. Aber an manchen Tagen sieht man die Früchte, aber man kann sie einfach nicht essen, wenn man es versucht, dann nimmt man zwar ihre Anwesenheit im Mund war, aber der Gaumen bekommt nichts davon mit. Es ist kein Genuß da.
Und dann kommt auch noch die Last des Sonntags hinzu. Der Sonntag ist der Tag, an dem einsame Herzen in ihren sensiblen Stunden besser zuhause bleiben sollten.
Paris, Stadt der ewigen Romantik und der Liebe, und ich mitten drin an Schauplätzen, die gemacht sind für das Glück „à deux“, aber ich laufe alleine und grimmig durch die Gegend, ohne auch nur die Hand nach einer Frucht auszustrecken, um mein Leid dadurch zu vergessen. An solchen Tagen darf ich nicht dahin gehen wo viele Menschen sind. Und davon gibt es in Paris natürlich viele. Auf einem Markt kann ich traurig werden, weil ich mir einen Partner herbei wünsche, mit dem ich die gemeinsam gekauften, frischen Zutaten zu einem leckeren Mahl bereite. Wenn ich an einer Bar vorbei komme, in der am Sonntagmorgen die Menschen nett beieinander stehen und sitzen, in Familie oder im Kreis von Freunden, habe ich an solchen Tagen nicht die Kraft hineinzugehen. Mein Alleinsein wird dann zur Einsamkeit und jeder Mensch scheint mir den Spiegel meines Leids vorzusetzen.
Gehe ich an einem solchen Tag über einen Flohmarkt, erblicke ich nur Paare, die sich über ein erworbenes Schnäppchen freuen.
Traue ich mir ein Museum zu, werde ich, kaum habe ich die ersten Werke erblickt, trotzig und sperre mich innerlich der Kunst, weil ich mir jemanden wünsche, mit dem ich die Eindrücke teilen kann.
Will ich einfach entfliehen in die Natur, suche ich mir einen Park zum Aufatmen meiner mich hetzenden Einsamkeit. Ich tue gut daran nicht einen Park in der Innenstadt für meinen therapeutischen Spaziergang auszuwählen, denn da ist man am Sonntag umgeben von vielen Menschen, natürlich Familien und Paaren, die ein besonders düsteres Licht auf mich werfen. Ich nehme also die Metro und fahre nach Vincennes raus. Natürlich bin ich auch hier am Sonntag nicht allein, aber heute tut mir diese Pariser Vorstadt gut. Ihr Grauschleier paßt zu meinem eigenen.
Vincennes ist ein Ort, den ich sehr mag. Es ist kein typisches Pariser banlieu, also nicht einer der Vororte, wo die Gefahr besteht, daß dein Auto nachts angezündet wird. Vincennes ist eine gut bürgerliche Kleinstadt. Ich nenne sie Kleinstadt, denn sie wirkt wie eine. Hier gibt es eine Geschäftsstrasse, ein schickes Rathaus mit Park drumherum, Bibliotheken, Schulen, Stadtfeste, und was wohl Vincennes zu dem gemacht hat, was es ist: Das Schloss. Es liegt nur ein paar Schritte von der Geschäftsstraße entfernt. Mir kam es bei meinem ersten Besuch in Vincennes so vor, als hätte ich eine Reise (von 20 Minuten) an ein Schloss an der Loire gemacht. Die Loire fehlt hier zwar, aber die Stimmung ist ähnlich wie in den schönen, aufgeräumten Städten, die wir entlang der Loire finden.
Ich meide die Geschäftsstraße, denn die Sonntagsstimmung vor verschlossenen Schaufenstern möchte ich heute nicht abbekommen. Ich spaziere um das Schloss herum und bin kaum vor der Südseite auf dem großen Parkplatz angelangt, da sehe ich eine Schlange von Menschen. Ach ja, sonntags gibt es ja (von Anfang Juni bis Ende Juli) im Parc Floral immer Jazz-Konzerte. Die sind wirklich schön und wenn man einen Gut-Wetter-Tag erwischt ist das ein wunderbarer Ort den Sonntag zu verbringen. Viele nehmen Decke und Picknickkorb mit und machen es sich unweit der Musik, unter Bäumen bequem. Das ist ein 1,50 Euro preiswertes Vergnügen (Das ist der reguläre Eintrittspreis zum Parc Floral, die Musik gibt es also gratis dazu)
Aber ich schaffe es in der heutigen fragilen Gemütsverfassung nicht hinein zu den so fröhlich aussehenden Menschen im Doppel- und Familienpack. Ich spaziere lieber um den Parc Floral herum und genieße die relative Ruhe im Bois de Vincennes. Die Vögel, die zwitschern sind zwar auch nicht so allein wie ich, aber ihr Zwitschern gibt meiner unruhigen Seele eine vertraute Heimat. Ich rieche die Düfte des frühen Sommers. Sie gesellen sich wie linderndes Balsam zu den ersten aufflackernden Lebensgeistern. Die Natur stärkt mich, ihre Früchte kann ich genießen, denn sie stellen nicht so hohe Anforderungen wie die Früchte der Stadt.
Gestärkt an Licht und Mut verlasse ich den großen Park (nach strenger Übersetzung müsste ich den Bois eigentlich Wald nennen, aber dafür ist er mir einfach nicht wild genug). Es ist schon früher Abend, als ich die kurze Zeit in der Metro hinter mich gebracht habe und in Nation aussteige. Die Stadt hat sich wieder beruhigt. Die Flohmarktbesucher sind längst zuhause und sitzen im Schein ihrer neu erworbenen antiken Lampe über dem Baudelaire, der ihnen in ihrer Hausbibliothek noch fehlte. Die Museumsbesucher sind, den Kopf voller neuer Eindrücke, heimgekehrt und freuen sich etwas Neues gelernt zu haben. Die Restaurantbesucher sind satt und trinken sich daheim eine wohltuende tisane (einen Kräutertee). Die „petite promenade du dimanche“ ist beendet und die Spaziergänger legen erschöpft die Füße hoch.
Und ich steige aus der Metro-Unterwelt, erblicke die untergehende Sonne, die den großen Kreisverkehr in ein sanftes Licht hüllt, lasse mich von dieser Atmosphäre einladen das Café Chez Prosper ... am Place des Antilles zu betreten um bei einem „petit blanc“ (einem kleinen Glas Weißwein) und Blick auf die zwei Befestigungstürme, die Colonnes du Trône, die Erneuerung meiner Energien zu feiern.





17. Aus dem Flugzeug in den „Blauen Zug“

Lieber Theo,

Ich war ja für ein paar Tage Paris-flüchtig geworden, unfreiwillig bzw. nicht aus Flucht vor Paris, sondern aus Familientreue. Die Oma hatte Geburtstag und ich wollte ihr die Freude machen, mit dabei zu sein. War nett, aber es ist auch wieder sehr nett in meiner Wahlheimat zu sein. Bereits das Ankommen war schon sehr schön, und vermutlich auch irgendwie außergewöhnlich. Außergewöhnlich, weil ich denke, dass mir das bei einem Flug nach Frankfurt nicht passiert wäre.
Das Flugzeug war voll besetzt und ich wählte einen Platz neben einer Dame, die auch alleine unterwegs war. Während des Fluges redeten wir kaum, nur ein paar Höflichkeiten. Als es auf die Landung zuging wurden wir kommunikativer. Es ging natürlich los mit Kommentaren zum Wetter, der wohl meistgenutzten Eintrittskarte in ein Gespräch mit einer fremden Person. Wir gelangten dann aber schnell auf eine tiefere Ebene. Die Dame ist Französin und war zu Besuch bei ihrem Sohn, der in Berlin Musik studiert. Sie konnte auch gut deutsch und hin und wieder rutschten ihr auch englische Ausdrücke heraus. Sehr ungewöhnlich fand ich das für eine Französin. Sie erklärte mir, die Deutschkenntnisse kämen von ihrem deutschen Großvater und englisch spräche sie, weil ihr Mann Ire sei, und zuhause mit den Kindern stets englisch gesprochen worden sei. Ihre Tochter hätte es nach Marburg zum Studieren verschlagen. Eine wirkliche Seltenheit unter französischen Familien. Die Dame heißt Geneviève und das passt zu ihr, denn sie wirkt genauso edel wie dieser Name klingt. Wir plaudern also und gelangen recht schnell ans Welt verbessern. Du weißt schon, wir bedauern die fehlende Menschlichkeit untereinander und bemängeln unsere Zurückhaltung zur Fröhlichkeit. Sofort stellt sich eine Wärme und Herzlichkeit zwischen uns ein, wir berühren uns am Arm beim Sprechen und bieten uns gegenseitig Bonbons und Zigaretten an.
Sie raucht, Gauloise – c’est clair- aber bei ihr stört es mich kein bisschen. Es passt zu ihr. Es geschieht so wahnsinnig langsam und genussvoll. Sie schätzt ihre Zigarette. In ihren Fingern wirkt sie nicht wie ein gesundheitsschädigender Tabakwickel, sondern eher wie ein wertvolles Lebensmittel, das man mit Genuss für sein Dasein belohnt.
Ich frage sie, während wir mit unseren Koffern durch die Flughafenhalle rollen, wie sie in die Stadt kommt. Sie sagt mir, sie nähme sich ein Taxi, Bus oder RER wäre ihr zu anstrengend, sie will sich den Luxus gönnen. Sie müsse zum Gare de Lyon. Ob ich mit ihr fahren wolle, fragt sie. „Allez, je vous invite!“ Die Einladung nehme ich gerne an. Es gibt eine lange Schlange an der Taxihaltestelle, aber in guter Gesellschaft, die wir uns gegenseitig geben, vergeht die Wartezeit recht schnell. Sie erzählt mir, dass sie auf dem Land wohnt, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Clermont-Ferrant. Es sei wunderbar, wie ruhig und friedvoll sie dort mit ihrem Mann lebt. Hier merkst du wirklich, die Frau erzählt nicht irgendwelche Illusionen, um ihr nicht wirklich vorhandenes Glück hervorzulocken, sondern sie ist Hans im Glück. Einfach, natürlich, leichte, freie Freude über die Blumen, die in ihrem Garten blühen, und die Nachbarn, die man ungezwungen, und nicht hinter der Gardine versteckt, an seinem Leben teilnehmen lässt. Ich kann sie mir vorstellen, wie sie mit einer Decke über den Beinen auf ihrem Terrassenstuhl sitzt und in einem Buch versinkt. Ich sehe sie vor mir wie sie lächelnd vom Markt heimkommt. In den Taschen hat sie Kirschen, Mirabellen, Käse und Baguette und im Herzen, die soeben ausgetauschten Gespräche mit den Menschen, die sie unterwegs getroffen hat.
Wir erreichen den Bahnhof, sie zahlt das Taxi und wir stehen da, vor der großen eisenbedachten Bahnhofshalle. Auf Französisch nennt man diesen Ort „Salle des pas perdues“- „Saal der sich verlierenden Schritte“. Das gefällt mir. Es klingt melancholisch und ein Bahnhof hat, wohl durch die vielen Abschiede, die man dort erlebt, auch etwas melancholisches.
Genevièves Zug geht erst in einer Stunde. Sie sagt, ich müsse doch jetzt sicher weiter, ich würde doch erwartet. Nein, ich habe noch Lust die Stunde mit ihr zu verbringen. Sie freut sich und wir finden einen Ort, der zu diesem Moment, den wir als sehr reich und irgendwie edel empfinden, perfekt passt. Wir steigen die Treppe in der Bahnhofshalle hoch und stoßen die Tür auf zum „Le Train Bleu“. Ein wunderschöner Speisesaal tut sich vor unseren Augen auf. Grosse, kunstvoll verzierte Fenster, ein kostbarer Fußboden und edle Gemälde an den Wänden und der Decke machen den Ruhm dieses altehrwürdigen Restaurants aus. Eine Bahnhofsgaststätte ist das wirklich nicht. Natürlich können wir uns hier nur einen petit café leisten, alles andere übersteigt die finanziellen Grenzen, die Menschen wie wir, sich für Ausgaben dieser Art setzen. Aber der Kaffee ist seinen Preis allemal wert, nicht weil er so hervorragend schmeckt, sondern weil er uns einfach eine Aufenthaltsgenehmigung an diesem schönen Ort bietet. So sehe ich übrigens oft die hohen Preise, die hier für Speisen und Getränke verlangt werden. Ich darf nicht mit dem nur nach dem Wert schauen, was ich im Glas oder auf dem Teller habe. Ich zahle hier nicht nur vier Euro um ein Bier zu trinken, sondern habe dafür gleichzeitig Eintritt in einem wunderschönen Ambiente gezahlt. Das ist es mir wert.
Um uns herum wird Essen unter silbernen Gloschen serviert. Ganz schön schick, eigentlich zu viel schick für mich, aber in Paris verzeihe ich Hochmut. Vielleicht weil er hier angebracht ist. Wenn hier der Gast einen teuren Wein auswählt, empfinde ich es als passend, weil es mir vorkommt, als schätze er ihn tatsächlich. In Frankreich schwingt der Stolz, ein teures Lebensmittel zu verzehren mit. Es ist Stolz auf das gute Essen, was man in ihrem Land bekommt und weniger stolz auf sich, weil man sich ein solches Essen leisten kann.
Ich habe mich oft gewundert, wie die Pariser in dieser teuren Stadt überleben. Und zwar nicht bei Wasser und Brot, sondern bei Champagner, Foie Gras und Baguette-Brot. Mehrmals habe ich nachgefragt, ob die Menschen, die in Paris arbeiten mehr verdienen, weil ja die Lebenshaltungskosten teurer sind. Die Leute erzählten mir, die Pariser verdienen nicht viel mehr, aber sie hätten einen Hang zum Schulden machen. Die Pariser sind ja Weltmeister im bargeldlosen Bezahlen, und ermöglichen sich dadurch, bis zu einem gewissen Limit, den allgemeinen Luxus des (mehrmals) wöchentlichen Restaurantbesuches mit hemmungslosem Genuss.
Man sieht die Franzosen ja tatsächlich täglich ins Restaurant oder Bistro rennen, aber falls du dich darüber wunderst, und dich nach der Finanzierung dieses Luxus fragst, so sollst du wissen, dass die meisten Arbeitnehmer in Frankreich über so genannte „Chèques Restaurant“ verfügen. Das ist eine Art französische Antwort auf unseren deutschen Bausparvertrag. Allerdings wird in Frankreich nicht das „Häuslebauen“ vom Chef unterstützt, sondern, wie sollte es anders sein im Land der Gourmets: die Ernährung. Die französischen Arbeitnehmer kaufen monatlich dieses Scheckheft, 30 Schecks zu je 6 Euro, von denen der Arbeitgeber 3 Euro übernimmt. In fast jedem Restaurant (oft ausgewiesen durch einen besonderen Aufkleber im Fenster) werden diese Schecks angenommen.
Nun bin ich aber auf den silbernen Gloschen ausgerutscht und weit abgedriftet. Wir befanden uns doch im „Train Bleu“ und genossen Kaffee, Dekor und das frische Einvernehmen zwischen Geneviève und mir. Das „Buffet de la Gare“ wie man die französische Bahnhofsgaststätte wohlklingend und appetitlich nennt, wurde 1900 eröffnet, zur Weltausstellung. Frankreich wollte vor seinen Besuchern protzen mit diesem prächtigen Restaurant, das einen bereits beim Ankommen am Bahnhof einen ersten Eindruck von der Stadt vermitteln sollte. 1963 wurde es wurde es erst „Le Train Bleu“ getauft, zu Ehren des Zuges „Paris-Vintimille“. Warum das so war? Ich kann nur folgende Vermutung aufstellen: Vintimille ist eine italienische Stadt an der französischen Grenze. Zugverbindungen zwischen Paris und Vintimille gingen wohl vorwiegend über Nacht, Nacht ist dunkelblau- bleu also.
Im Jahre 1928 veröffentlichte Agatha Christie einen Roman mit dem Titel „Le train bleu“. In diesem Roman will Hercule Poirot einige Wochen Ferien machen an der Côte d’Azur, die nicht weit entfernt vom Städtchen Vintimille liegt. Wenn da mal nicht ein Zusammenhang besteht?! Und ich habe noch etwas herausgefunden: Damals machten die Engländer gerne in Nizza Urlaub. Sie stiegen in London in den Zug, mussten in Paris umsteigen, und hatten dort eine Wartezeit zu überbrücken. Um sich für die lange Reise nach Nizza zu stärken, suchten sie ein Restaurant auf, „wenn man schon mal in Paris ist, dann wird auch richtig französisch getafelt“. Die Wandbemalung im Train Bleu zeigt viele Bade- und Meermotive, ein Zeichen dafür, dass die Engländer dort auf ihren Urlaub eingestimmt werden sollten.
So genug Miss Marple gespielt.
Unsere „blaue Stunde“ ist bald vorbei und ich begleite Geneviève zu ihrem Gleis. Wir umarmen uns, wünschen uns „Alles Gute“ und „Bon Courage“ und gehen lächelnd auseinander. Wir werden uns sicher nie mehr wieder sehen, aber ich lasse die Melancholie, die in dieser Bahnhofsszene freiwird, nicht an mich heran, sondern freue mich lieber an dem erlebten Moment.
Ich winke.